Foto Marit Cremer

Das Verhältnis zu Geflüchteten aus Tschetschenien ist in den Ländern der Europäischen Union uneindeutig. Jedoch sind es auch die Traditionen der Tschetschen*innen selbst, die eine Anpassung an die neuen Lebensbedingungen erschweren

Vor 15 Jahren war es, als Siegfried Stupnig, der damals in Österreich tschetschenischen Geflüchteten Deutschunterricht gab, seinen Schülern vorschlug, Fußball zu spielen. Heute erzählt er gerne scherzhaft die Geschichte von der Gründung und den sportlichen Erfolgen des ersten und einzigen österreichischen Fußballvereins „ FC Tschetschenien“. Dieser, so Stupnig, habe zur erfolgreichen Integration praktisch aller seiner Mitspieler in Österreich beigetragen.

Ein weniger positives Bild entsteht beim Lesen deutscher Zeitungsartikel und eher beunruhigenden Geheimdienstberichten: „Hier werden die Tschetschenen als Problemgruppe aufgefasst, eine Gruppe, die sich von anderen Geflüchteten durch eine erhöhte Neigung zu Gewalt und Islamismus, Aggressivität und dem Unwillen zur Integration unterscheidet“, erklärte die Soziologin Marit Cremer von MEMORIAL Deutschland im Interview mit der Deutschen Welle.

Folter in Tschetschenien, Rechtlosigkeit in Europa

Stupnig und Cremer nahmen an der Konferenz „Zwischen Ankunft und Abschiebung. Tschetschenische Geflüchtete in Europa“ teil, die am 8.11.2018 auf Initiative mehrerer Menschenrechtsorganisationen aus verschiedenen europäischen Ländern in Berlin stattfand.

Die auf der Konferenz auftretenden Menschenrechtler*innen, Anwält*innen, Sozialarbeiter*innen und Vertreter*innen der tschetschenischen Diaspora sprachen über die Situation in Tschetschenien, die Willkür des Regimes von Ramsan Kadyrow, über Repressionen und Folter in tschetschenischen Gefängnissen. Thematisiert wurde außerdem die, ihrer Einschätzung nach, zunehmende katastrophale rechtliche Situation tschetschenischer Geflüchteter in Europa: die Ablehnung ihrer Asylanträge, Abschiebungen und Auslieferungen an die russischen Behörden.„Leider sind es nicht nur die russischen Behörden, die sich ihrer Verantwortung für die Tschetschenen entziehen“, so die Leiterin der „Bürgerhilfe“ und Vorstandsmitglied von Memorial, Svetlana Gannushkina, „die Einstellung ihnen gegenüber ändert sich auch in Europa nicht zum Besseren hin.“

Auslieferungen von Tschetschenen – Ein Instrument des Kremls?

Einige Menschenrechtler*innen vertreten die Meinung, dass dies Folge des Handelns russischer Geheimdienste sei. Ihnen sei es gelungen, mit Verweis auf den Kampf gegen den internationalen Terrorismus europäische Behörden zu überzeugen, dass tschetschenische Geflüchtete eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen.

Akhmed Gisaev von der norwegischen NGO „Human Rights Analysis Center“ ist überzeugt, dass Russland die Auslieferungen von Tschetschenen durch fabrizierte, politisch motivierte Gerichtsverfahren erreicht.„Für Russland und Kadyrow ist das ein Mittel, tschetschenische Geflüchtete im Namen der
Konfliktlösung im Nordkaukasus zu terrorisieren“, erklärte Gisaev, „und der Westen lässt dieses Rechtsmittel und seinen Missbrauch zu.“Ihn empört auch die Tatsache, dass deutsche Geheimdienste eine Liste mit potentiellen islamistischen Terroristen führen, darunter etwa 200 Tschetschenen. „Wenn sich diese Leute etwas zu Schulden haben kommen lassen, muss man sie verurteilen, sie hinter Gitter bringen, aber nicht in irgendeine Datenbank eintragen“, meint Gisaev. Die Frage des DW-Korrespondenten, wie man mit einem überzeugten Islamisten, der bisher keine Tat begangen habe, für die man ihn verurteilen könne, umgehen solle, rief nicht nur bei dem Menschenrechtler aus Oslo, sondern auch bei einigen der anwesenden Tschetschenen heftige Reaktionen hervor.

Einer der Teilnehmer bezeichnete die Eintragung der 200 Tschetschenen auf der Liste potentieller Terroristen als Diskriminierung und Willkür, verglich sie sogar mit der Verfolgung der Juden: „Es gab damals einen Informationskrieg gegen die Juden, und genau der gleiche Informationskrieg wird heute gegen Tschetschenen geführt“, sagte er. Nach dieser Aussage riss der Anwältin Barbara Wessel der Geduldsfaden. „Ich vertrete schon viele Jahre die Interessen tschetschenischer Geflüchteter, ich bemerke die wachsenden negativen Einstellung ihnen gegenüber, aber alle Vergleiche mit 1933 und der Verfolgung der Juden in Nazideutschland sind absolut unzulässig und unlauter.“

Gründe für die Radikalisierung tschetschenischer Geflüchteter

Libkan Bazaeva von der Organisation „Women for development“ aus Grozny erklärt die Hinwendung einiger tschetschenischer Geflüchteter zum Islamismus mit dem Umstand, dass „tschetschenische Geflüchtete, wie auch Einwanderer aus anderen Ländern, in Europa losgelöst von ihrer religiösen Identität sind, von den traditionellen religiösen Praktiken, die sie in ihren Heimatländern gepflegt haben.“Schwierigkeiten bei der Sozialisation, Heimweh und die Suche nach einem neuen Weg der Religionsausübung würden einige zum Salafismus führen, sagte sie im Interview mit der Deutschen Welle.

Nach Beobachtungen von Ekaterina Sokirianskaia vom Conflict analysis and prevention centre (Istanbul), suchen Tschetschenen, die sich schon in ihrer Heimat radikalisiert haben, nicht den Weg nach Europa, sondern gehen entweder in die Türkei oder in den Nahen Osten. „Das sind konservative Leute, die wollen nicht in der westlichen Gesellschaft leben. Wenn man in Europa auf radikalisierte Tschetschenen trifft, dann sind diese erst dort mit diesen Ideen in Berührung gekommen.“

Die Soziologin Marit Cremer hat sich dieser Frage aus wissenschaftlicher Sicht genähert. Gestützt auf ihre Forschungsergebnisse spricht sie von einer Phase der „Desozialisierung“ tschetschenischer Geflüchteter in Deutschland. „Sie erleben eine Phase der Unsicherheit und Desorientierung, verstehen nicht, wie die deutsche Gesellschaft funktioniert und wie man sich adäquat verhält“, so Cremer. „Und genau in dieser Phase kommen Vertreter der tschetschenischen Diaspora oft schon in die Erstaufnahmestellen für gerade angekommene Geflüchtete und nehmen sie unter ihre soziale Kontrolle.“

In dieser Phase suchen die Menschen nach Orientierung, einige finden sie in der verstärkten Hinwendung zur Religion, der sie in ihrer Heimat jedoch eine weniger bedeutende Rolle beigemessen hatten. „Wir stellen fest, dass zum Beispiel Frauen sich hier verschleiern, was sie zuvor nie getan hatten. Sie richten sich stärker nach traditionellen Regeln“, stellt Cremer fest, „zudem sondern sie sich von der hiesigen Gesellschaft ab, von der sie den Eindruck haben,
abgelehnt zu werden.“

„Gesetze der Altvorderen“ und Besonderheiten des Selbstverständnisses

Das führt keineswegs zwangsläufig zur religiösen Radikalisierung, schafft jedoch bestimmte Probleme bei der Anpassung an die Lebensbedingungen der europäischen Gesellschaft. Hinderlich für die Integration sind zudem einige Traditionen und Besonderheiten des tschetschenischen Selbstverständnisses: die Vorherrschaft des Gewohnheitsrechts, mithin die Angewohnheit, sich nach den überlieferten Gesetzen der Väter, und nicht des Staates, zu richten;
die Vorstellungen über die Rolle der Frau, die Regeln der Blutrache, das Verständnis der kollektiven Verantwortung und außerdem die Verschlossenheit der tschetschenischen Gemeinde.

Libkan Bazaeva erzählte ein Beispiel von ihrer Bekannten, die in Südfrankreich lebt: Diese könne sich nicht damit abfinden, dass ihr 14-jähriger Sohn mit einem farbigen Mädchen befreundet ist.
Der Gedanke, dass die beiden heiraten und farbige Kinder bekommen könnten, lässt sie nicht los. Bazaeva nennt das „Snobismus des weißen Mannes.“
„Unsere Traditionen, der Adat, das ist unsere spirituelle Kultur“, sagte sie. „Die besten Werte sollten wir mit allen anderen auf der Welt teilen, aber es gibt auch einen Teil, der sich historisch überholt hat. Es ist wichtig, dass wir lernen, im Einklang mit der neuen Welt zu leben, modern zu sein, und gleichzeitig unsere Traditionen zu wahren“,- so Bazaeva in einer lebhaften Diskussion, die sich nach einer Äußerung Svetlana Gannushkinas entzündete. Diese hatte erzählt, dass sie häufig von Frauen und Mädchen um Hilfe gebeten wird, die sich einem starken Druck bis hin zu Todesdrohungen seitens ihrer Verwandten ausgesetzt sehen.

„Ihre Familien lassen sie nicht in Ruhe, wenn sie einen europäischen Freund haben oder einen geheiratet haben“, erklärte Gannushkina. Sie forderte auf, tschetschenischen Frauen das Recht zu gewähren, ihre Gemeinschaft verlassen zu können. Nach den Zwischenrufen und Redebeiträgen der anwesenden
Tschetscheninnen und Tschetschenen zu urteilen, lässt sich schließen, dass dieser Vorschlag von ihrer Mehrheit extrem negativ aufgefasst wurde. „Tolerant zu sein ist schwierig, wenn es dir wichtig ist, deine eigene Identität zu wahren, und der Widerstand der Tschetschenen gegen jegliche Versuche von Tschetschenen, sich ihrer Gemeinschaft zu entziehen, verhält sich disproportional zur Größe dieses Volkes“, kommentierte Gannushkina die Reaktionen im Interview mit der Deutschen Welle.

von Nikita Jolkver, Deutsche Welle (Übersetzung: MEMORIAL Deutschland e.V.)

 

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