Vor dem Bundesverfassungsgericht war aktuell eine Verfassungsbeschwerde gegen die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen zur Strafverfolgung nach Russland erfolgreich.

Die angegriffene Entscheidung verstieß gegen Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG, weil das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht die Gefahr des Beschwerdeführers, im Zielstaat politisch verfolgt zu werden, nicht genügend aufgeklärt und nicht eigenständig geprüft hat.

Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Dabei gewährleistet Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern verleiht dem Einzelnen, der behauptet, durch einen Akt öffentlicher Gewalt verletzt zu sein, oder im Auslieferungsverfahren im Vorgriff einer belastenden hoheitlichen Maßnahme geltend macht, diese würde in unzulässiger Weise in seine Rechte eingreifen, einen substantiellen Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle.

Die fachgerichtliche Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen kann die Beachtung des geltenden Rechts und den effektiven Schutz der berührten Interessen nur gewährleisten, wenn sie auf zureichender Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts beruht. Um dem Gebot effektiven Rechtsschutzes zu genügen, darf ein Gericht auf die Ausschöpfung aller Erkenntnismöglichkeiten daher nur verzichten, wenn Beweismittel unzulässig, schlechterdings untauglich, unerreichbar oder für die Entscheidung unerheblich sind. Dagegen darf es von einer Beweisaufnahme nicht schon dann absehen, wenn die Aufklärung besonders arbeits- oder zeitaufwendig erscheint.

Auch im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die zuständigen Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht, vollständig zu prüfen. Dies gilt auch für die Frage, ob der Auszuliefernde Gefahr läuft, im Zielstaat Opfer politischer Verfolgung zu werden. Zweck der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung im förmlichen Auslieferungsverfahren ist der präventive Rechtsschutz des Verfolgten im Vorgriff auf das behördliche Bewilligungsverfahren. Das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren im Allgemeinen und die Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat im Besonderen dienen der Abwehr staatlicher Eingriffe in grundrechtlich geschützte Interessen des Auszuliefernden. Wird eine Auslieferung vollzogen, obwohl die Gefahr besteht, dass der Betroffene im Zielstaat politisch verfolgt wird, so verstößt sie jedenfalls gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG. Auslegung und Anwendung des § 6 Abs. 2 IRG oder entsprechender auslieferungsvertraglicher Regelungen (z.B. Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbK) durch die Oberlandesgerichte haben dem Rechnung zu tragen und eine wirksame gerichtliche Kontrolle sicherzustellen. Auch wenn im konkreten Fall aus Art. 16a Abs. 1 GG kein Asylanspruch folgt, muss der Grundgedanke dieser Norm, Schutz vor politischer Verfolgung im Zielstaat zu bieten, dabei berücksichtigt werden.

Soweit Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung im Zielstaat bestehen, sind die zuständigen Stellen in Auslieferungssachen verpflichtet, im Rahmen von § 6 Abs. 2 IRG oder einer entsprechenden auslieferungsvertraglichen Regelung (z.B. Art. 3 Nr. 2 EuAlÜbK) eigenständig zu prüfen, ob dem Betroffenen im Fall seiner Auslieferung politische Verfolgung droht 8. Dabei obliegt dem Betroffenen im Auslieferungsverfahren keine Beweislast hinsichtlich seiner politischen Verfolgung, wenn er auch gehalten ist, bei der Sachverhaltsaufklärung nach seinen Möglichkeiten mitzuwirken.

Um Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG gerecht zu werden, müssen die für die Zulässigkeitsentscheidung zuständigen Gerichte bei Anhaltspunkten einer Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat die ihnen möglichen Ermittlungen zur Aufklärung der behaupteten Gefahr veranlassen und den Sachverhalt eigenständig würdigen. Dies folgt auch aus Art. 16a Abs. 1 GG, dem insoweit im Auslieferungsverfahren auch verfahrensrechtliche Bedeutung zukommt. Sie müssen sich ernsthaft bemühen, gegebenenfalls die Akten eines ausländischen Asylverfahrens beizuziehen, es sei denn, es steht – zum Beispiel aufgrund des Vortrags des Betroffenen – fest, dass sich daraus keine neuen Erkenntnisse ergeben. Dadurch kann sichergestellt werden, dass der Vortrag des Betroffenen und alle bereits erfolgten Sachverhaltsermittlungen zu einer Gefahr politischer Verfolgung durch den Zielstaat berücksichtigt sowie gegebenenfalls Widersprüche aufgeklärt und Vorhalte gemacht werden können. Soweit die Verfahrensakten nicht erreichbar sind, muss das Gericht dies in der Zulässigkeitsentscheidung darlegen. Seiner Pflicht zur eigenständigen Prüfung der Gefahr politischer Verfolgung muss es in einem solchen Fall durch anderweitige Aufklärungsschritte, in der Regel durch die persönliche Anhörung des Betroffenen, genügen.

Soweit ernstliche Gründe für die Annahme einer politischen Verfolgung im Zielstaat sprechen, hat das Gericht die beantragte Auslieferung für unzulässig zu erklären. Ob die Voraussetzungen dieses Auslieferungshindernisses vorliegen, muss es eigenständig und unabhängig von Entscheidungen im Asylverfahren prüfen. Dies folgt verfassungsrechtlich aus Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG, den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG geschützten materiellen Rechtspositionen, die insoweit dem Grundgedanken des Art. 16a Abs. 1 GG entsprechen, sowie einfachrechtlich aus § 6 Abs. 2 IRG beziehungsweise den jeweiligen auslieferungsvertraglichen Vorschriften.

Diesen Anforderungen wurde im vorliegenden Verfahren der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts, mit dem die Auslieferung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft zur Strafverfolgung nach Russland als zulässig erklärt wurde, nicht gerecht. Seiner Verpflichtung, die Gefahr des Beschwerdeführers, im Zielstaat politischer Verfolgung ausgesetzt zu sein, aufzuklären und eigenständig zu prüfen, ist das Oberlandesgericht nicht nachgekommen.

Es hat den durch Vorlage der entsprechenden amtlichen Dokumente gestützten Vortrag des Beschwerdeführers, er sei in Polen als Flüchtling anerkannt worden, was seiner Auslieferung entgegenstehe, nicht aufgeklärt, sondern sich zum einen auf die nicht tragfähige Erwägung zurückgezogen, dass der Beschwerdeführer jedenfalls in Deutschland kein Asyl beantragt und erhalten habe. Zum anderen hat es das aus der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus durch Polen folgende gewichtige Indiz für eine politische Verfolgung im Zielstaat ohne hinreichende Sachverhaltsaufklärung als widerlegt angesehen. Damit verkennt das Gericht, dass es gerade in seinen Aufgabenbereich fällt zu prüfen, welcher Sachverhalt der polnischen Entscheidung zugrunde lag.

Dabei kann dahinstehen, ob die polnische Asylentscheidung, wie durch den Beschwerdeführer vorgetragen, für das Auslieferungsverfahren verbindlich ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, dass asylrechtliche Entscheidungen gemäß § 6 Satz 2 AsylG für das Auslieferungsverfahren grundsätzlich nicht verbindlich sind. Denn für die Überprüfung des Auslieferungsbegehrens steht mit dem Oberlandesgericht eine unabhängige richterliche Instanz zur Verfügung, die in justizförmigem Verfahren die Einwände des Auszuliefernden prüfen kann und hierzu auch unter Aufklärung der behaupteten Gefahr politischer Verfolgung verpflichtet ist. Ob die rechtskräftige Anerkennung als Asylberechtigter in Deutschland abweichend von diesem Grundsatz von Verfassungs wegen für das Auslieferungsverfahren verbindlich ist, ist in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts offen gelassen worden. Ebenso offen ist, ob sich dies auf die Anerkennung als Flüchtling in einem anderen Mitgliedstaat übertragen lässt. Jedenfalls stellt eine solche Anerkennung ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass es sich bei dem Betroffenen um einen politisch Verfolgten handelt.

Die verfassungsrechtliche Pflicht, dieses gewichtige Indiz zu berücksichtigen und den Sachverhalt aufzuklären beziehungsweise das Verfahren so zu gestalten, dass die auf dem Spiel stehenden materiellen Grundrechte des Beschwerdeführers bestmöglich geschützt werden, hätte das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht im vorliegenden Fall zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung veranlassen müssen, die es unterlassen hat. Ihm lagen weder die polnische Asylentscheidung noch die der polnischen Entscheidung zugrundeliegenden Verfahrensakten vor, und das Oberlandesgericht hat im Auslieferungsverfahren auch keinen ernsthaften Versuch unternommen, diese beizuziehen. Es konnte nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass auf diese Weise sachdienliche Informationen zu erhalten gewesen wären, die die bisherigen Schilderungen des Beschwerdeführers, in denen das Oberlandesgericht Widersprüche erkannt hat, hätten stützen oder in Zweifel ziehen können. Der Beschwerdeführer hat im Auslieferungsverfahren zwar keine konkreten Angaben zu den Hintergründen der politischen Verfolgung gemacht. Dies lag jedoch, soweit ersichtlich, zum einen daran, dass er von der – nicht fernliegenden – Bindungswirkung der polnischen Asylentscheidung ausging, zu der sich das Oberlandesgericht bis zuletzt nicht äußerte. Zum anderen hat das Oberlandesgericht aber auch keine Maßnahmen ergriffen, um Näheres vom Beschwerdeführer in Erfahrung zu bringen. Soweit er am 29.03.2019 in Abwesenheit seines Prozessbevollmächtigten vor dem Amtsgericht Neumünster auf Antrag des Generalstaatsanwalts des Landes Schleswig-Holstein pauschal zu den „Einwendungen“, die er „gegen seine Auslieferung oder seine Inhaftnahme erhebt“, angehört wurde, wurde in der Vernehmung ausweislich des Protokolls kein Versuch unternommen, Erkenntnisse über die von ihm behauptete politische Verfolgung zu erlangen. Das an das Amtsgericht gerichtete Vernehmungsersuchen enthielt keinen dahingehenden Auftrag. Ohnedies wäre in der vorliegenden Konstellation eine unmittelbare Befragung des Beschwerdeführers gemäß § 30 Abs. 2 Satz 1 IRG durch das Oberlandesgericht erfolgsversprechender gewesen, um etwaigen Widersprüchen in dessen Vortrag nachzugehen. In solchen Zweifelsfällen kann es erforderlich sein, dass das Oberlandesgericht von der ihm gegebenen Aufklärungsmöglichkeit selbst Gebrauch macht.

Das Oberlandesgericht war des Erfordernisses, die Voraussetzungen des Auslieferungshindernisses der politischen Verfolgung unter vorheriger Aufklärung des Sachverhalts eigenständig und unter Einbeziehung der gewichtigen Indizwirkung der polnischen Zuerkennungsentscheidung zu prüfen, schließlich nicht dadurch enthoben, dass die Russische Föderation zugesichert hat, ihre Behörden würden den Grundsatz der Spezialität beachten und der Beschwerdeführer werde nicht politisch verfolgt.

Zwar sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vom ersuchenden Staat im Auslieferungsverkehr gegebene völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können. Eine solche Prüfungsobliegenheit der Belastbarkeit einer Zusicherung im Einzelfall ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des EGMR. Stellt sich im Rahmen dieser Prüfung etwa heraus, dass die tatsächlichen Gegebenheiten im Zielstaat erheblich von dem zugesicherten Verhalten abweichen, ist dies geeignet, die Frage aufzuwerfen, ob das zugesicherte Verhalten überhaupt geleistet werden kann und die abgegebene Zusicherung belastbar ist. Dies gilt auch, wenn unter Zugrundelegung des zuvor aufgeklärten Sachverhalts Anhaltspunkte für die Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat bestehen 26. Vorliegend fehlt es schon an einer hinreichenden, Art.19 Abs. 4 GG genügenden Aufklärung des Sachverhalts, welche die Grundlage für eine Prüfung der Belastbarkeit der abgegebenen Zusicherungen ist.

Da die angegriffene Entscheidung bereits aufgrund der unzureichenden Sachaufklärung hinsichtlich der Gefahr politischer Verfolgung im Zielstaat aufzuheben ist, kann dahinstehen, ob auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt ist, weil das Oberlandesgericht es trotz Kenntnis seiner möglicherweise bestehenden Vorlagepflicht, auf die bereits die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 24.06.2019 hingewiesen hatte, ohne nachvollziehbare Begründung unterließ, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in dem hierfür unionsrechtlich zuständigen Mitgliedstaat ein Auslieferungshindernis in einem Verfahren mit dem Ziel der Auslieferung an den Herkunftsstaat begründet, welches in einem anderen Mitgliedstaat geführt wird.