Ungeachtet weltweiter Proteste setzt Moskau seine gnadenlose Intervention in der abtrünnigen Kaukasusrepublik fort. Sie trifft immer härter die Zivilbevölkerung. Trotz militärischer Rückschläge hoffen die tschetschenischen Kämpfer auf eine baldige Wende.
Es ist eine schlimme Nacht, mit Eisregen und Sturmböen. Der Bergfluss Argun brodelt seit Stunden schon. Er hat das Schrottauto am Ufer über und über mit Schlamm bespritzt.
Der Wagen Marke „Wolga“ steht mit der Schnauze Richtung Georgien und trägt statt des Kennzeichens ein handgemaltes Schild: Es verkündet, dass dieses Auto zu „Itschkerija“ gehört, zur abtrünnigen Kaukasusrepublik der tschetschenischen Muslime. Neben einer notdürftig getarnten Bretterhütte markiert das Vehikel den einzigen noch von Tschetschenen verwalteten Grenzübergang.
Nur wenige stolpern diese Nacht den Pfad hinunter in den Rebellenstaat. Die meisten nehmen den umgekehrten Weg, am kümmerlichen Hoheitssymbol vorbei die Berge hinauf, Richtung Süden – ins rettende Georgien.
Dabei ist auch der kleine Saïd aus Grosnys Vorstadt Prigorod. Dem Siebenjährigen kommt es vor wie ein böser Traum, dass er in stockfinsterer Dunkelheit frierend und zitternd an dieser Stelle steht. Statt sich in wenigen Stunden auf den morgendlichen Weg zur Schule zu machen, ist der Erstklässler mit seiner Mutter auf der Flucht.
Der Krieg war ihnen jede Minute auf den Fersen. Bei Schatoi hatten die Russen die einzige Straßenbrücke zerbombt. So blieb nur das Durchqueren des reißenden Flusses. Zweimal beschossen Flugzeuge den Treck, kurz vor der Grenze löschten Raketen das Leben einer ganzen Flüchtlingsfamilie aus. Und noch immer können sich Saïd und seine Mutter nicht sicher wähnen.
Georgiens Grenzer, die am malerischen Bergdorf Schatili auf Wacht stehen, lassen zwar Frauen und Kinder durch – aber keine Männer zwischen 16 und 60. Doch um nach Tiflis zu gelangen, muss noch das 3000 Meter hohe Bärenkreuz bezwungen werden – ein verschneiter und vereister Pass, über den lediglich ein schmaler Geröllweg führt. Wer 200 Dollar erübrigen kann, für den stehen Taxifahrer mit Geländewagen bereit. Die Fahrt freilich ist ein Horrortrip: Der kleinste Ausrutscher, und sie endet im Abgrund.
Die Georgier spüren den russischen Druck. Moskau hält den Weg entlang des Argun für jene Trasse, über die der Waffen- und Munitionsnachschub für die Freischärler der Rebellenrepublik läuft. Eine absurde Beschuldigung: Kein Lastwagen würde die Passage schaffen. Trotzdem haben die Russen vor Schatili jetzt Plastikminen abgeworfen – direkt auf georgisches Gebiet. Sie drohen, den Nachbarstaat mit in den Krieg zu reißen.
Selbst die tschetschenischen Kämpfer in ihrer Bretterbude fühlen sich ungemütlich. Wegen der Bombenangriffe haben sie ihr Quartier 200 Meter höher in die Berge verlegt. Die bärtigen Männer, die bunte Pullover mit Aufschriften wie „Chicago Bulls“ und „High Performance“ tragen und aus Emailleschüsseln Nudeln mit dünnen Fleischstückchen löffeln, kümmern sich kaum um die Grenzgänger. Sie haben nur einen Auftrag: zu verhindern, dass die Russen an dieser Stelle Luftlandetrupps absetzen.
In der Hütte hängt ein Plakat mit dem Bildnis des im ersten Krieg vor dreieinhalb Jahren gefallenen Tschetschenen-Führers Dschochar Dudajew. Das Poster ist eingerissen und verblasst, es wirkt wie ein Symbol dafür, dass den Kaukasiern im Kampf gegen die Russen das hehre Ziel abhanden gekommen ist. Längst geht es nicht mehr um den Traum von der eigenen Unabhängigkeit. Nur noch Hass treibt die Männer an – gegen die Eindringlinge aus dem Norden, die diesen zweiten Krieg mit bislang unbekannter Grausamkeit betreiben. „Jetzt kämpfen wir Auge um Auge und Zahn um Zahn“, sagt Grenzer Naid.
Wenn es nur so wäre. Doch die Tschetschenen bekommen den Gegner kaum zu Gesicht. Der ist in seinen Bombern unerreichbar. „Die Russen kämpfen feige nach der Methode Kosovo“, sagt Rasan Magamadow, 70, der Lehrer von Itum-Kale, dem ersten größeren Dorf auf tschetschenischer Seite. „Sie haben keine Terroristen im Visier, sie selbst terrorisieren die Bevölkerung, um uns zur Aufgabe zu zwingen.“
Um die Brotversorgung der Region zu stören, haben die Russen in Staryje Atagi ganz bewusst die nach dem letzten Krieg von Schweizern erbaute Mühle gesprengt. Wegen der zerstörten Brücken kommen indes ohnehin keine Lebensmittel mehr nach Itum-Kale durch. Der Ort ist abgeschnitten.
Madina Machaschewo, 35, bietet in ihrem Dorfladen nur noch eingelegte Gurken und Tomaten feil, Zigaretten der Sorte „Prima“; dazu Senfpflaster, Streichhölzer, ein paar Knoblauchzehen und einen 99er Kalender mit dem Bild der Backstreet Boys. Von 5000 Einwohnern sind noch 3000 im Dorf, auch Frauen und Kinder. Den meisten fehlt für die Flucht das Auto oder einfach nur Geld. Wer noch Mehl hat, backt Brot für die anderen mit.
Freischärler gibt es nicht im Ort. Trotzdem schlugen jetzt zwei Bomben ein. Eine traf den Friedhof, auf dem gerade eine Beerdigung stattfand, zwei Frauen wurden durch Splitter schwer verletzt.
Der eigentliche Krieg findet 50 Kilometer nördlich statt. Gudermes, Tschetscheniens zweitgrößte Stadt, haben die Russen genommen. Nun schießen sie die Dörfer rund um Urus-Martan sturmreif, eine stark besiedelte Gegend südwestlich der Hauptstadt Grosny. In den vergangenen Stunden haben sie mit einem Hubschrauberkommando eine Anhöhe bei Goiskoje besetzt.
In der Nacht sieht Tschetscheniens Himmel aus, als nehme jemand das Millennium-Feuerwerk vorweg. „Christbäume“ weisen den Bomben das Ziel, Salven von Raketenwerfern orgeln durch die Luft, mit rotem Feuerschweif schlägt eine der aus Russland abgeschossenen Boden-Boden-Raketen ein. In Goiskoje klirren die Scheiben, hilflos bellt ab und an ein tschetschenisches Maschinengewehr gegen die Flugzeuge an. Eine Großmacht hat ihr gesamtes Waffenarsenal mobilisiert, gegen ein Völkchen von vielleicht noch 400 000 Unbequemen.
General Leitscha Islamow, genannt „Boroda“ (der Bart), ist am Abend von Georgien her nach Hause zurückgekehrt. Der Vize-Befehlshaber der tschetschenischen Südwestfront und Chef der Sonderpolizei „Scheich Mansur“ hatte sich im Ausland um islamische Hilfe bemüht.
Aber was heißt nach Hause? Sein zweistöckiges Heim in Goiskoje ist nicht mehr vorhanden – die Bomber haben es in einen Schutthaufen verwandelt. Bruder Ruslan, 32, der gerade in der Küche stand, ist tot, die Mutter schwer verletzt.
Der General mit dem krausen schwarzen Bart, der eine kunstvoll verzierte Pistole und einen filigran ziselierten Dolch am Koppel trägt, gilt eigentlich als hartgesottener Kerl. Jetzt aber drückt ihm hilfloses Schluchzen den Kopf auf die Tischplatte – mit Ruslan ist der dritte von insgesamt sieben Islamow-Brüdern tot.
Im Haus des Onkels findet das Trauerzeremoniell statt. Die Frauen weinen, dann ziehen sie sich an den Herd zurück. Frontchef Hamsat Gelajew, einst in Grosny Vizepremier, ist mit mehreren Kommandeuren der „tschetschenischen Streitkräfte“ zum Kondolieren erschienen. Die Männer sitzen am Küchentisch, nagen an Hammelknochen, trinken Tee.
„Nur Allah, der Allerhöchste, weiß, wie es weitergeht“, tröstet Gelajew. Die Kerzen flackern, über die quäkenden „Motorola“-Sprechfunkgeräte der Kommandeure sind die neuesten Kriegsnachrichten zu vernehmen.
„Dschihad an Engel“, bittet jemand, mit Engel ist Gelajew gemeint. Die russischen Posten auf der Fernstraße bei Atschchoi-Martan seien überrannt, sechs Fahrzeuge erbeutet, sagt die Stimme. Es gebe „Gäste“ – das Codewort für Gefangene.
Solche Nachrichten sind Balsam für die Kommandeursseele, die Männer wurden in letzter Zeit von Erfolgsmeldungen nicht gerade verwöhnt. Bei Atschchoi-Martan hatten die russischen Truppen tiefe Einbrüche erzielt – im Schutz der kilometerlangen Kolonne tschetschenischer Flüchtlinge, die sich an der geschlossenen Grenze zu Inguschien stauten. „Wir waren ohnmächtig, sollten wir unsere eigenen Leute dem Feuer aussetzen?“, erklärt Islamow die Niederlage.
Unübersehbar, dass viele Kommandeure auf die geänderte Taktik der Russen nicht vorbereitet sind, es gibt nicht die von ihnen erhofften Kämpfe von Mann zu Mann. „Aber die Russen sind nicht wirklich stark, die haben keinen Glauben, die können nur Bomben werfen“, tröstet Gelajew. „Wir warten auf den Moment, der uns gelegen kommt.“
Die Tschetschenen wissen freilich auch, dass Moskau diesmal genügend „Enten“ unter ihnen hat, Verräter. Käufliche Leute, die Hand in Hand mit Russlands Geheimdienst FSB arbeiten. Und die des Nachts für die Flieger Zielobjekte markieren. „Ohne deren Hilfe hätten sie mein Haus nicht so punktgenau bombardiert“, glaubt Boroda.
Da erfreut das Video, das die Männer vom Geheimdienst mitgebracht haben: Es zeigt das Verhör eines Oberstleutnants der russischen Armeeabwehr GRU, der ihnen vor Tagen samt einer in Freischärler-Uniformen steckenden Diversantengruppe ins Netz ging. Laut Aussage des Offiziers sollte der Trupp tschetschenische Flüchtlingstrecks durch Überfälle verunsichern und Attentate auf Kommandeure verüben. Die Männer hatten Waffen mit Schalldämpfern sowie Minen dabei. „Der Russe ist natürlich erschossen worden“, sagt Islamow lakonisch.
Die Männer nicken zustimmend. Sie trinken den nächsten Tee und zitieren den Propheten, außerdem Lermontow und Dudajew: „Wer nicht mit allen Mitteln danach strebt, der Sklaverei zu entfliehen, der hat sie doppelt oder dreifach verdient.“
In der Früh geht es wieder in die vorderen Gräben. Erstmals ist auch die mit Boroda eingetroffene Verstärkung dabei: der Jordanier Chalid, der sein vorzügliches Russisch im ukrainischen Kiew gelernt hat, und der Tschetschene Ramadan, eben wegen des Krieges aus Syrien zurückgekehrt. Ramadan hat in Pakistan studiert und zuletzt mit weiteren Landsleuten an der Scharia-Fakultät der Uni von Damaskus. Natürlich gehörte auch Militärausbildung dazu. Keiner habe ihn nach Hause gerufen, sagt Ramadan, „mein Herz hat es mir befohlen“. Zwei seiner Brüder sind bereits tot.
Der Morgenhimmel ist erschreckend wolkenlos und blau: Flugwetter. Entsetzt stehen die Einwohner von Goiskoje vor ihren Häusern und beobachten, wie zwei Kilometer vor ihnen die Welt ins Wanken gerät. Zuerst geht der Mitschurin-Kolchos am Ortsrand von Urus-Martan in Flammen auf; dann explodiert im Bombenhagel der Russen die nahe gelegene Tankstelle, schließlich pflügen Raketen die Straße hinter Goiskoje um.
„Sie zielen auf jedes Auto, das dort noch fährt“, schreit Nachbar Ismail wutentbrannt. Da lobe er sich die Deutschen, „die 1942 hier absprangen: Die waren korrekt und hilfsbereit, die haben meiner Mutter aus ihrer roten Fallschirmseide sogar noch Decken gemacht“.
Dass in Urus-Martan viele Wahhabiten sitzen, Tschetscheniens religiöse Eiferer saudiarabischer Provenienz, weiß Ismail sehr wohl. Er sieht in ihnen Agenten, „die von den Juden gesteuert sind“, so wie er Extremistenführer Schamil Bassajew für einen „russischen Judas“ hält – „alles Leute, die in Russlands Auftrag hier den Krieg schüren“.
Das Ergebnis des russischen Bombardements ist eine Stunde später im Krankenhaus von Goity zu besichtigen. Hilflos steht Chefarzt Junadi Datschajew neben der Leiche der 32-jährigen Jesita: Ein Splitter hat die Frau direkt ins Herz getroffen, als sie sich mit ihren vier Kindern und der Kuh über die Landstraße retten wollte.
Zwei Autos mit vier Schwerverletzten rasen auf den Hof; bevor die Getroffenen den OP erreicht haben, sind zwei von ihnen tot. „Ich habe keine Verbände mehr, kein Narkosemittel, keine Spritzen – nur noch meine Hände“, Datschajew sagt es resigniert. Er operiert im Keller bei Kerzenschein und hat weder ein rotes Kreuz aufs Dach gemalt noch eine weiße Fahne herausgehängt: „Das würde die Bomber doch nur anziehen.“
Auch im Krankenhaus von Staryje Atagi herrscht das Elend. Dicht an dicht liegen die Opfer der russischen Terroristenjagd: der leblose zehnjährige Sulidan, der an der Bushaltestelle verwundet wurde, als eine Rakete ein vorbeifahrendes Auto traf: Schädeltrauma; Tarana, die Flüchtlingsfrau aus Baku, der die Druckwelle einer Bombe die Brust zerquetschte; Kwais, 47, der auf eine Mine trat: das linke Bein ist amputiert; der 14-jährige Alik aus Perwomaiskoje, der auf dem Hof Holz hackte, als zwei Granaten einschlugen: das linke Auge ist weg, auch die linke Hand und das linke Bein scheinen unrettbar verloren.
In den Betten nebenan liegen noch immer die Verbrannten und Verstümmelten vom russischen Raketenangriff auf den Markt von Grosny – mittendrin hängt ein bereits Gestorbener am Tropf. „Ein Stein, der oben liegt, muss nicht immer oben bleiben, lehrt uns der Prophet“, flüstert die 69-jährige Lena Riwilog kraftlos, aber voller Verachtung aus ihrem Bett heraus. Sie meint Putin, Russlands Kriegspremier, den sie nur „Rasputin“ nennt.
In der Hauptstadt Grosny arbeitet längst kein Krankenhaus mehr. Wozu auch? Vor der Brücke am Minutka-Platz klafft ein riesiger Trichter. Daneben liegen ein Schrank, Betten, ein paar Koffer. „Die Bombe ist direkt auf einen Flüchtlings-Lkw gefallen“, sagt ein Anwohner, „wir haben nicht mal Leichenteile gefunden.“
Alle paar Minuten erschüttern schwere Einschläge die Stadt. Am Sieges-Prospekt brennt ein getroffenes Wohnhaus, drei Menschen wurden im Keller verschüttet. Vor der bombardierten Staatsbank flattern Behördenbriefe und Kontoabrechnungen über die Straße. Das einzig Bunte in der kaltgrauen Ruinenstadt ist ein großes Dudajew-Porträt, das die Einöde an der Stelle des früheren Präsidentenpalastes ziert.
Nur schemenhaft bewegen sich die Zurückgebliebenen durch die Geisterkulisse. Schukran Armokajewa, 43, macht in den wackligen Holzständen am Markt letzte Vorräte zu Geld. Sie verkauft eingelegte Tomaten, das Glas für 35 Rubel, und gebratene Koteletts zu 7 Rubel das Stück. Ihre Kundschaft sind Freischärler und die Bewohner der Keller von Grosny. Vier Frauen sind sie noch auf dem Hof in der Rosa-Luxemburg-Straße Nr. 15, allen fehlt das nötige Geld zur Flucht.
Wacha Arsanow will bleiben. Der Mann mit der Papacha, der tschetschenischen Pelzmütze auf dem Kopf, steht mit nur zwei Leibwächtern auf dem leeren Platz vor dem gestürzten Lenin-Denkmal: Es ist Tschetscheniens Vizepräsident.
Dass die Führung angeblich das Land Richtung Georgien verlassen will, ist „eine böse Propaganda-Ente der Russen“, sagt Arsanow, der einst für den Geheimdienst zuständig und im letzten Krieg Befehlshaber der Nordwestfront war.
Die Einnahme von Gudermes scheint den Vizepräsidenten nicht zu bedrücken: „Wir bereiten den Russen dort in den nächsten Tagen eine große Überraschung vor“, sagt er schmunzelnd. Auch an Waffen mangele es nicht – sie kämen aus Russland. Schließlich säßen genügend Generäle in Moskau, die dem Jelzin-Günstling Putin einen Erfolg in Tschetschenien missgönnten. Es gebe aber auch nicht wenige, die den Krieg weiter nach Georgien tragen wollten, damit Russland der Zugang zu den Ölquellen des Kaukasus erhalten bleibt.
Dass der Sieg über die Russen an mangelnder Einigkeit der Tschetschenen scheitern wird – Arsanow glaubt das nicht. „Wir haben alles Trennende beiseite geschoben“, behauptet er – „vorerst.“ Er meint den extremistischen Feldkommandeur Bassajew, der mit seinem Dagestan-Einmarsch im August den Krieg erst richtig losgetreten hat.
„Wenn wir mit Russland fertig sind, werden wir aufklären, was in Dagestan wirklich geschah – vor einem Scharia-Gericht. Allah wird uns sagen, was dann zu tun ist.“ Arsanow stülpt die Papacha auf und verschwindet in den Ruinen von Grosny. CHRISTIAN NEEF
Von Christian Neef
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15118832.html