„Auch Hunger ist Krieg!“ (Willy Brandt); „ Politische Kultur ist eine Tugend die bei Willy
Brandt zu erlernen war.“

(Günter Grass) Grass/Brandt, Der Briefwechsel (Steidl, 2013), „Links und frei“

Der Briefwechsel der beiden Nobelpreisträger Grass und Brandt ist ein historisches Zeitdokument und gleichzeitig ein Streifzug durch die große Zeit der Sozialdemokratie in Deutschland. „Ihnen, lieber Willy Brandt, ein erfolgreiches neues Jahr zu wünschen, heißt in keinem Fall, die alte Glückwunschformel zu bemühen, denn wir alle hängen von Ihren Erfolgen ab.“ Günter Grass bringt mit diesen Neujahrswünschen die Bedeutung Brandts als Politiker auf den Punkt. Willy Brandt hat Deutschland im Jahr 1933 (also zum Zeitpunkt der Machtergreifung des nationalsozialistischen Terrorregimes) als politischer Flüchtling verlassen müssen. Diffamierungen des konservativen Lagers begleiteten die politische Karriere Brandts. Günter Grass sprang dem als unehelichen Kind gebrandmarkten wahlkämpfend zur Seite. Die SPD und im besonderen Brandt und Grass haben Deutschland vom Mief der Adenauer Ära und damit der Nachkriegszeit befreit. Die konservative Presse und rechtsnationale Besserwisser haben Grass sein jahrzehntelanges Engagement für die Sozialdemokraten nie verziehen. Als der Schriftsteller im Jahr 2012 ein kritisches Gedicht zur israelischen Politik veröffentlichte wurde er gar als Antisemit bezeichnet. Vergessen war Grass Beitrag zur Wiederannäherung der Beziehungen Deutschlands zu Israel den seine „Staatsbesuche“ vor mehr als einem halben Jahrhundert bewirkten. Der Politiker und der Schriftsteller verfolgten das Ziel eine friedlichere und gerechtere Welt zu gestalten. Ihre Freundschaft entwickelte sich langsam und war Krisen ausgesetzt. Aber: Grass las Brandt und Brandt las Grass. Von heutigen Sozialdemokraten (in Deutschland) ist weder das eine noch das andere zu erwarten. Tatsächlich hat der Briefwechsel und natürlich die vielen persönlichen Aufeinandertreffen Auswirkung auf die deutsche Politik gehabt. „In Zeiten allgemeiner Wirrnis und Führungslosigkeit herrscht gute Marktlage für falsche Propheten.“ schreibt Grass an Brandt und meint die hetzerische Springer Presse nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Beide, Grass und Brandt, waren – und sie hatten noch mehr
Gemeinsamkeiten – bisweilen durchaus exzessive Raucher. In dieser Hinsicht also vielleicht weniger vorbildlich. Wohl ist SchriftstellerInnen dieses ungesunde Vergnügen immer noch erlaubt, aber: Stellen sie sich jetzt Frau Merkel mit Zigarette und Herrn Kurz mit Pfeife vor. Das geht wirklich gar nicht.

Toleranz und Tugend auch dafür stand die Politik Brandts, die mit dem berühmten Kniefall vor dem Denkmal der Helden des Warschauer Ghettos im Dezember 1970 für alle Zeiten verbildlicht wurde. Schon im Jahr 1961 hatte Brandt vor den verheerenden Folgen der Umweltverschmutzung gewarnt (Zunahme von Leukämie und Krebs etc.) Wir haben im Jahr 2020 auf die Corona Krise mit drastischsten Mitteln reagiert und völlig zurecht unsere alten Menschen geschützt. Vielleicht sollten uns aber – in Bezug auf die nahende Klimakatastrophe – auch unsere Kinder und Kindeskinder wertvoll und damit schützenswert sein? Mit Willy Brandts Tod im Jahr 1992 endet der Briefwechsel der mit der Einladung an die führenden Schriftsteller Deutschlands sich für die Sache der Sozialdemokraten einzusetzen drei Jahrzehnte zuvor begonnen hatte. Verglichen mit Brandt lässt sich in der Politik heute in höchster Position allenfalls Mittelmaß finden. Willy Brandt und Günter Grass haben es gleichermaßen verdient in jeweils ihrem Metier kritisch bewundert zu werden. Nachfolge haben beide nicht gefunden.

Sigi Stupnig, Verein Inklusionsinitiative