Vorwort

In Tschetschenien spiegeln sich alle Probleme Russlands in verschiedenen Fassetten wieder. Offiziell wird eine „antiterroristische Operation“ propagiert, in Wirklichkeit findet in Tschetschenien ein Krieg statt, der Kriterien des Völkermordes erfüllt. Das russische Fernsehen verbreitet den Glauben, dass sich die Republik Tschetschenien im Wideraufbau befindet. Tatsächlich liegt die Republik immer noch in Trümmern. Wladimir Putin und dessen Berater erklärten westlichen Besuchern, es werde alles getan um Verbrechen in Tschetschenien strafrechtlich zu verfolgen. Tatsächlich denken weder Putin noch seine Untergebenen daran, weil systematische Menschenrechtsverletzungen zur Tradition russischer Kriegsführung und Unterwerfungstaktik gehören. Moskau begann 1999 seinen zweiten Krieg in Tschetschenien als Reaktion auf den fortdauernden Terrorismus und den Einmarsch von Rebellenführer Schamil Bassajew in der kaukasischen Nachbarrepublik Dagestan. In Wirklichkeit deuten viele Indizien darauf hin, dass dieser Krieg aus den gleichen Gründen inszeniert und begonnen wurde wie der erste. Um mit einem kleinen siegreichen Krieg die Nachfolge von Präsident Boris Jelzin im Sinne der Regierung zu entscheiden und einem von Jelzin ausgesuchten Nachfolger in den Kreml zu verhelfen.

Ich versuche in meiner Arbeit die Geschichte und Vorgeschichte des zweiten Tschetschenienkrieges aufzuarbeiten und die Wurzeln des Konflikts aufzuzeigen. Der Konflikt war und ist geprägt von Lügen und Propaganda sowohl auf Seiten der Russen als auch auf Seiten der Tschetschenen. Zwar gibt es wie im Westen Instrumente demokratischer Kontrolle wie Justiz und Medien aber in den meisten Fällen sind sie vom Staat abhängig und erfüllen ihre Rolle nicht. Der englische Russland-Historiker Geoffrey Hosking hat in einem großen Alterswerk darauf hingewiesen, dass man Russland am besten versteht, wenn man nicht an einen Staat mit objektiven Regeln und Gesetzen denkt, sondern an ein Netzwerk persönlicher Beziehungen, in dem unbedingte Loyalität und im Gegenzug die Versorgung der Untergebenen durch die Chefs des jeweiligen Netzwerkes zählen.[1]

Genau diese Netzwerke und „Loyalitätsmuster“ spiegeln sich im Tschetschenien-Konflikt wieder und verursachen eine Spirale des Schreckens die sich immer weiter zu drehen scheint.

Die Wurzeln des Konflikts

Im Oktober, genauer betrachtet am 27. des Jahres 1991, gewann ein gewisser Dschochar Dudajew die Präsidentenwahlen in der autonomen Sowjetrepublik Tschetschenien. Die Wahlen verliefen nebenbei bemerkt, sehr chaotisch ab. Dudajew war sowjetischer General und obwohl er eine Russin geheiratet hatte, ein glühender tschetschenischer Nationalist. Bereits nach drei Tagen Amtszeit erklärte Dudajew Tschetschenien zum unabhängigen Staat. Dabei überschritt er die Grenze zwischen Souveränität und Unabhängigkeit, hinter der alle anderen Führer der autonomen Republiken auf dem Territorium der RSFSR zurückgeblieben waren. Selbst Tatarstans ehrgeiziger Präsident Schajmijew hatte diesen Sprung nie gewagt.

Folglich war die russische Führung in Moskau über diese Pläne empört. Der zum Sprecher des Obersten Sowjets der RSFSR gewählte Ruslan Chasbulatow, erklärte die tschetschenische Unabhängigkeitsdeklaration für ungültig. Der russische Präsident, Boris Jelzin verhängte den Ausnahmezustand. Postwendend wurde eine spontane Invasion des russischen Innenministeriums am 8.November geplant. Die Mission scheiterte. Die 600 Mann starke Truppe landete mitten in der Nicht auf dem Militärflughafen Chankala bei Grosny. Sie waren abgeschnitten vom Nachschub und klaren Befehlen und wurden wenig später von tschetschenischen Kämpfern eingekesselt. Hunderttausende Tschetschenen demonstrierten im Zentrum von Grosny gegen die Moskauer Einmischung. Dudajew wurde an diesem Tag vom General zum Nationalhelden.[2]

Die einseitige Unabhängigkeitserklärung verkörperte von nun an den allgemeinen Volkswillen. Dudajew rüstet in der Folge der Invasion seine Republik auf. Tschetschenien entwickelte sich zu einem halbstaatlichen Hybriden. Es war weder ein wirklich eigenständiges Land, noch ein echter Bestandteil Russlands. An der tschetschenischen Grenze wurde Schilder aufgestellt, die Besucher darauf hinwiesen, dass sie sich in der „Nochtschijn Respublika“ befanden. Doch die eigenständige Republik war mehr Fassade. Die Bevölkerung bezahlte weiter mit russischen Rubeln und zeigte an der Grenze sowjetische Pässe vor. Von den Behörden wurde das russische Fernsehen ausgestrahlt und der Fußballklub Terek-Grosny durfte in der russischen Liga antreten. Diese Art föderaler Restloyalität war eher billig und für beide Seiten folgenlos. Die russische Kassenwarte stoppte im März 1993 die Zahlungen von Renten und Löhnen. Dschochar Dudajew scherte seinerseits aus dem russischen Wirtschaftsraum aus, indem er Moskauer Reformen nicht umsetzte und die Preise nach Gutdünken regulierte. Dudajew war der Meinung, das ein Brot auch nach der Freigabe der Preise nicht mehr als einen Rubel kosten durfte. Von derlei agrarsozialistischen Vorschriften abgesehen, hielt er es in der Praxis mit einem radikalkapitalistischen Laissez-faire-Prinzip[3], das Schwarzhändlern aus ganz Russland eine lukrative Freibeuterzone eröffnete. Tschetschenien wurde zum Marktplatz des organisierten illegalen Handels, der Öl- und Autoverkäufe und der Geldwäsche für die gesamte Russische Föderation. Mittels Flugverkehr flogen Tschetschenen in die Türkei, nach China oder in den Nahen Osten. In Grosny verkauften sie die Waren an Zwischenhändler, die das Gut dann zollfrei in ganz Russland absetzten.[4] Vor allem Moskauer Geschäftemacher und hochgestellte Beamte profitierten davon enorm. Zollbetrug, Kapitalflucht und Schieberei hatten längst die ganze Föderation befallen.

Vorbestimmt war der Kriegsverlauf ab 1994 unter anderem vom Waffenhandel. Die russische Armee hatte kein Geld, um neue moderne Waffen zu kaufen. Dudajew hingegen erwarb auf den internationalen und russischen Rüstungsbasaren, was er bekommen und bezahlen konnte. Kräftig unterstützt wurde diese Vorgehensweise von einem Erlass des russischen Verteidigungsministers Pawel Gratschow vom Mai 1992. Dieser sprach den Tschetschenen nach dem Abzug der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte aus der Republik, die Hälfte der russischen Waffen zu. Offiziellen russischen Listen zufolge sollen 226 Flugzeuge, 42 Panzer, 36 Panzerfahrzeuge und 29000 Maschinengewehre in Tschetschenien geblieben sein.[5]

Das „Problem“ Tschetschenien wurde vorerst vernachlässigt, da der russische Vielvölkerstaat genug andere Sorgen hatte. Erst nachdem Russland mittels Verträge mit Tatarstan und anderen Republiken stabilisiert wurde, begannen Moskauer Politiker Tschetschenien als Problem wahrzunehmen. Die Drohungen gegen die abtrünnige Republik verschärften sich auf Seiten Russlands. Die Frage stellte sich, warum es so plötzlich zur Eskalation ausartete? Eine der populärsten Erklärungen dafür, stellt wohl das Öl dar. In Grosny befand sich die größte Ölraffinerie Russlands. In sowjetischer Zeit wurde damit der ganze russische Süden versorgt. Tschetschenien selbst verfügt über begrenzte Ölvorkommen. Strategisch wichtig war aber die Funktion Tschetscheniens als Drehkreuz der Pipelines zwischen dem Kaspischen Meer und dem Schwarzen Meer. Für Tschetschenien war das Öl eine sehr wichtige Einkommensquelle.

Die endgültige Entscheidung über einen Angriff fiel auf einer Sitzung des Sicherheitsrates am 29.November 1994. Um ein gewisses „Verständnis“ für den Konflikt in Tschetschenien zu bekommen, möchte ich die Zeit etwas zurückdrehen und darauf hinweisen, dass bereits im 16.Jahrhundert Bergvölker und die russischen Kosaken aufeinander prallten. Auch in den Jahren zwischen 1832 und 1859 leisteten die Tschetschenen den bis Dato längsten Widerstand. Unter dem Befehl des Führers Imam Schamil hielten sie die russischen Heere über ein Vierteljahrhundert in Schach. Zar Nikolaus I. forderte in Folge des Krieges 1829 die endgültige Befriedigung der Bergvölker oder die Ausrottung der Unbotmäßigen. Im Zweiten Weltkrieg ließ ausgerechnet der Kaukasier Josef Stalin die Tschetschenen und die mit ihnen verwandten Ingsuchen nach Zentralasien deportieren. Beinahe eine halbe Million Tschetschenen wurden 1944 vertrieben mit dem Vorwand, sie würden mit den Nazis kooperieren. So war die Propaganda.[6] Erst im Jahre 1957 durften die Überlebenden in den Kaukasus zurückkehren. Verständlicherweise haben sich diese Tatsachen in das Gedächtnis aller Tschetschenen gebrannt, die heute älter sind als 44 Jahre und die Deportation miterlebt haben.

Doch der Krieg gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik wurde von den russischen Politikern und Generalen weitergeführt. Die gleichen Fehler und Verbrechen vergangener Zeiten wurden mit bemerkenswerter Gründlichkeit in den Jahren 1994 bis 1996 wiederholt. Die russische Führung demonstrierte äußerste Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung. Die russische Infanterie war schlecht auf diesen Krieg vorbereitet. Aus diesem Grund hing der Erfolg der russischen Truppen von den Luftstreitkräften ab. Die Befehlshaber der Operation bedachten aber nicht das von Nebel, Regen und Schneetreiben geprägtes Dezemberwetter. So warfen die Flugzeuge ihre Bombenladungen mehr oder weniger blind über den umkämpften Siedlungen ab, in denen Tschetschenen und Russen lebten. Grosny wurde in langen Bombennächten zermürbt, bevor die russischen Truppen im Februar 1995 in die Hauptstadt einzogen. Die Rotten der russischen Soldaten und Söldner gingen mit brutaler Grausamkeit vor. Samaschki steht für eines der schlimmsten Massaker. Vor allem die russische Artillerie zerschoss im April 1995 das mit Flüchtlingen, Frauen und Kinder überfüllte Dorf, bis alles in Schutt und Asche lag. Soldaten steckten über 200 Häuser in brand. Plünderungen wurden durchgeführt. Über Hundert Menschen auf Seiten der Zivilbevölkerung wurden ermordet.[7]

Das tragische an diesem Krieg war auch die paradoxe Vorstellung, dass die Soldaten sowohl Täter als auch Opfer waren. Gemeint ist damit, dass sie schlechte Ausrüstung besaßen, mit zu kurzer oder keiner Ausbildung in den Krieg geschickt wurden. Fehlende Karten, vieldeutige Befehle und das organisatorische Versagen der Generale komplettierten das Chaos. Es Folgte eine bittere Niederlage für die Russischen Truppen. In der Silvesternacht von 1994 auf 1995 eroberte die 131. Maikop-Briegade der Motorschützen den Bahnhof in Grosny. Bereits einen Tag später kesselten Dudajews Kämpfer die Brigade ein und vernichtete diese bis auf wenige Soldaten.[8]

Die russischen Soldaten waren demoralisiert und trafen auf stark motivierte tschetschenische Kämpfer, die lernten, zu verschwinden wenn es nötig war, und blitzschnell zuzuschlagen, wenn die Russen eine Blöße boten. Die Taktik der tschetschenischen Kämpfer trug einen großen Beitrag zur enormen Gegenwehr bei. Die tschetschenischen Kämpfer lockten die russischen Einheiten in die Berge und schnitten ihnen den Rückweg ab um dann von allen Seiten anzugreifen.

[…]


[1] Vgl. Hosking, Geoffrey: Russia and the Russians. A History. New York/London. 2001

[2] Thumann, Michael: Das Lied von der russischen Erde. Moskauer Ringen um Einheit und Grösse. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart/München. 2002. S. 106 f

[3] Bem: ursprünglich politischer und wirtschaftlicher Grundsatz der Liberalen im 19. Jahrhundert, der dem Staat verbot, in die Entwicklung der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen einzugreifen. „gewähren lassen“.

[4] Thumann, Michael: Das Lied von der russischen Erde. Moskauer Ringen um Einheit und Grösse. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart/München. 2002. S. 108

[5] Dmitrij Sokolow: Tretja demografitscheskaja, in: Nowoje wremja, Nr. 32. 2001. S. 31-35

[6] vgl. Thumann, Michael: Das Lied von der russischen Erde. Moskauer Ringen um Einheit und Grösse. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart/München. 2002. S.112

[7] vgl. Il était une fois la Tchétchénie. Regie: Nino Kirtadze. 58 Min. ARTE France. Frankreich 2001. Gesehen am 08.05.05

[8] vgl. Christian Schmidt-Hüuer: Siegreich vor die Hunde, in: Die Zeit, Nr.5, 27.01.1995

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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Wurzeln des Konflikts

Der zweite Tschetschenienkrieg

Der Countdown zum Krieg

Der Kriegsverlauf

Kriegsende und Guerillakrieg

Der Tod Maschadow

Tschetschenien und der Europarat

Derzeitige Lage in Tschetschenien

Nachwort

Quellenverzeichnis

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Mag. Arno Hickl (Autor), 2005, Tschetschenien – Die Hintergründe des Konflikts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/77978

https://www.grin.com/document/77978