Amina mit ihren Schwestern

Ich bin gerade zu Gast bei Mitgliedern des Kulturvereins „Ichkeria“, und sitze am Tisch mit Husein Iskhanov, dem Obmann, und seinen zwei Freunden. Im Hintergrund laufen Nachrichten über die Ukraine. Ich spreche selbst Russisch, verfolge sowohl russische oppositionelle – , als auch ukrainische Nachrichtensender auf Youtube und kann deshalb mitreden. Vor mir steht ein bis zu den Rändern gefüllter Tisch mit Süßigkeiten, Snacks und Getränken. Mein persönliches Highlight des Festmahls sind die „Manty“, also dampfgegarte Teigtaschen mit Hackfleischfüllung, und einer Karotten-Zwiebel Sauce. Die Gastgeberin ist Mutter von vier Kindern, Hobbyköchin und Food-Bloggerin. Nachdem sie alles serviert hat, setzt sie sich dazu, und redet mit uns über Politik.

 

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Manty: zubereitet von der Gastgeberin

„Der lange Bart ist laut der tschetschenischen Tradition nur bei den Ältesten als Symbol für Weisheit verbreitet. Der moderne Salafisten-Look kommt aus dem arabischen Raum.“, erklärt mir Husein Iskhanov, während er sich über sein Kinn streichelt, um mir zu zeigen, dass er keinen Bart hat. Er ist Kritiker des russischen Regimes und wurde sogar zwei Mal in Russland gefangen genommen. „Meine Töchter sind auf Demonstrationen aufgewachsen.“, sagt er stolz, und isst ein Stück vom Kuchen, den die Gastgeberin selbst gebacken hat.

Der Krieg ist bei ihnen allgegenwärtig

Als Gast bei einer tschetschenischen Familie kann ich mich glücklich schätzen: „Wenn du als Gast in ein tschetschenisches Dorf kommst, ist das ganze Dorf für dein Wohlergehen verantwortlich.“, erklärt mir Husein. Außerdem haben die Dorfbewohner in ihren Häusern traditionell ein Extra-Gästezimmer und müssen laut altertümlichen Regeln, die Gäste mit ihrem Leben beschützen. Die Gastgeberin fragt mich immer wieder, ob ich etwas brauche, und bedient mich. Sie wischt nervös den Saft weg, den sie verschüttet hat, und bringt mir ein Küchentuch. Alles muss perfekt sein, wenn ich da bin.

Im Fernseher sehe ich Akhmed Zakaev, einen tschetschenischen Exilpolitiker, der gerade auf Staatsbesuch in Kyiv ist. Die Bilder aus der Ukraine bewegen alle im Raum. Der Krieg ist allgegenwärtig. Die Männer machen sich Sorgen, dass durch die Zerstörung der ukrainischen Schulen viele Kinder zu einer Art „verlorenen Generation“ werden. „Das war bei uns genauso ein Problem: viele Kinder wurden nicht alphabetisiert. Die sind heute in ihren 30ern und können der nächsten Generation keine Bildung weitergeben.“ Die Männer am Tisch regen sich über radikale Prediger auf. Das damals verwüstete Tschetschenien bot für sie eine Art Bühne: „Vor den beiden Kriegen war Tschetschenien säkular. Wie früher Afghanistan, vor dem Einmarsch der roten Armee.“, meint Husein Iskhanov.

„Ich weiß, wovon ich spreche“, sagt einer der Männer, „Ich war selbst mal kurz ein Teil so einer radikalen Gruppierung, ich weiß, wie die ticken.“ Wenn einer radikal ist, dann leidet das Image der ganzen Community darunter. Das Ziel der Männer vom Kulturverein ist es, radikalisierte Tschetschen:innen wieder ins Boot zu holen. Fast drei Jahre lang betreute Husein Iskhanov Jugendliche in der Justizanstalt Gerasdorf. Die Pandemie hat die Arbeit des Kulturvereins „Ichkeria“ erschwert. Der Vereins-Obmann ist nun auf der Suche nach Räumlichkeiten, um die Arbeit mit Jugendlichen fortzuführen zu können. „Zum Glück haben heutzutage viele ein Smartphone und dokumentieren die Kriegsverbrechen. Damals war bei uns alles anders:  Wegen der Informationsblockade war Tschetschenien von der Weltgemeinschaft abgekapselt.“, sind sich alle einig, während im Hintergrund immer noch ukrainische Nachrichten laufen.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer für die nächsten Generationen

Die Töchter der Gastgeber-Familie sind da, aber sie verstehen nicht, worüber wir reden, sie können kein Russisch. „Sie leben hier, und sind auch hier geboren. Das wichtigste ist, dass sie Deutsch und Tschetschenisch können.“ Die Alphabetisierung in der österreichischen Schule, hat auch ihr Tschetschenisch beeinflusst: sie verwenden untereinander das lateinische Alphabet mit Umlauten, um tschetschenische Laute abzubilden. Sie sind die Hoffnung für die nächsten Generationen, aber auf ihnen lastet auch viel Druck. Die 12-jährige Amina hat den zweiten Platz bei einem Zeichenwettbewerb gewonnen. Das Thema des Wettbewerbs: die Gefahren des Klimawandels für die Arktis. Die Freude in der Familie ist groß. Vor kurzem kamen: der Vertreter und die Vertreterin der amerikanischen und kanadischen Botschaft in die Schule, um dem Mädchen zu gratulieren. Alle sind überrascht, dass die Zeichnung bei der Jury so gut angekommen ist. Im Alltag machen ihr jedoch die negativen Schlagzeilen zu schaffen. Aminas Erfolg setzt nicht nur ein Zeichen für den Klimaschutz, sondern auch für die Akzeptanz von Tschetschen:innen in Wien. Amina zeigt mir auf ihrem Tablet die Eisbären-Zeichnung, und erklärt mir, dass sie sich das Malen mit der App „ibisPaint“ selbst beigebracht hat. Ihre Schwester spielt mir auf dem Keyboard ein Stück von „Attack on Titan“ (Anm: Soundtrack aus einem Anime) vor – ebenfalls Autodidaktin. Die Gastgeber bringen mir eine Gitarre und hören mir begeistert beim Spielen zu. Als meine Mutter anruft und mein kleines Konzert unterbricht, scherzen sie mit mir: „Heb ab, und sag, dass du nicht aufgefressen wurdest, von den Tschetschenen.“ Später erklären sie mir, dass in russischen Märchen, Tschetschenen als Menschenfresser dargestellt wurden, um den Kindern Angst zu machen. Der Ursprung des negativen Image der Tschetschen:innen  reicht weit zurück in die Vergangenheit: die imperialistische Politik des Russischen Reiches formte es maßgeblich.

 

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Amina K.

 

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Amina

Weltbild geprägt durch Krieg

Der ewige Widerstandskampf der Tschetschenen prägte die Traditionen und auch ihre Sprache: Sie begrüßen und verabschieden sich auf tschetschenisch mit „Komme an in Freiheit“ „Lebe frei“, „Geh in Freiheit“ bzw. „Bleib frei/in Freiheit“. Die Gastgeber erklären mir: „Die Freiheit ist für uns ein wichtiger Wert“. Als Abschiedsgeschenk schenkt mir Aminas Mama Schmuck und ich werde von der Familie nach Hause begleitet. „Wenn du Hilfe brauchst, kannst du uns sogar um drei Uhr in der Nacht anrufen.“ Auch wenn ich keine Angst habe, allein am Abend nach Hause zu gehen, und auch kein Krieg herrscht, ist es bei ihnen üblich. Laut tschetschenischer Tradition tragen Gastgeber auch hinter der Türschwelle die Verantwortung für den Gast.

31. Mai 2022

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