Russland möchte sich noch immer am liebsten ehemalige Sowjetrepubliken zurück einverleiben. Wenn Moskau seine Armee wie jetzt aufmarschieren lässt, geht in Weissrussland und Litauen die Angst um. Ein Reiseessay.
Seit vier Jahren reise ich viel im Gebiet der einstigen UdSSR umher, jenem zerfallenen dystopischen Imperium, in dem ich geboren und aufgewachsen bin: von Moskau bis Wladiwostok und Wladikawkas in Russland, von Kiew bis Charkiw und Odessa in der Ukraine, von Batumi bis Tbilissi in Georgien, von Baku bis Erewan. Und jedes Mal, wenn ich nach der Heimkehr meinen Freunden und Bekannten in Vilnius davon erzähle, schauen sie mich an, als würde ich von einem Weltraumflug berichten. Überdies scheint ihnen dieses ganze Areal sehr gefährlich zu sein. Und ausserdem noch grösstenteils feindlich. Und selbst das Litauen benachbarte Weissrussland, das uns historisch und geografisch sehr nahesteht, gehört für sie schon zu jener anderen Welt – zum finsteren postsowjetischen Osten, aus dem wir uns vor einem Vierteljahrhundert befreien konnten und so zum postsowjetischen Westen wurden.
Und im August dieses Jahres erhalte ich nun auch eine Einladung nach Weissrussland. Zu einem literarischen Forum in einem weissrussischen Dorf im unmittelbaren Grenzgebiet zu Litauen. Ich entscheide mich für eine Anreise mit dem Auto, die optimale Variante von Vilnius aus. Dies sorgt in meinem litauischen Bekanntenkreis für zusätzliche Beunruhigung: «Du fährst mit dem Auto nach Weissrussland? Allein?» Das ist die Angst vor der anderen Welt, denn mein Auto hat litauische Nummernschilder, die dort keine einheimischen Nummernschilder sein werden. Mit anderen Worten, ich werde dort deutlich «sichtbar» sein und mich nicht einmal zeitweilig unerkannt unter die Einheimischen mischen können. Doch dann erfahre ich, dass Andrei, ein weissrussischer Dichter, mit dem ich befreundet bin, gerade in Litauen ist und gern mit mir zusammen reisen möchte. Dieser Umstand beruhigt mein litauisches Umfeld ein bisschen.
Krieg zwischen zwei Litauen
Wir machen uns also zu zweit in Vilnius auf den Weg. Bis zur weissrussischen Grenze sind es nur dreissig Kilometer. Wir haben uns lang nicht gesehen, deshalb gibt es viel zu erzählen: von unseren Familien, von den Kindern und gemeinsamen Bekannten. Plötzlich fällt Andrei unser gemeinsamer Freund Oleksandr ein – ein ukrainischer Schriftsteller. Andrei fragt, ob ich wisse, dass er uns in seinem neuen Roman beschrieben hat. Ich höre davon zum ersten Mal, Oleksandr und ich haben schon länger nicht mehr korrespondiert. Wo? In welchem Roman? «In seinem neuen Roman», Andrei lacht. «Er ist vor einigen Monaten erschienen.» Ich frage, was daran so lustig sei. «Es ist eine Dystopie. Eine ferne Zukunft, in der die Ukraine ein friedliches und reiches Land ist, während im Norden von ihr schon viele Jahre ein blutiger Krieg im Gange ist, zwischen Litauen und Grosslitauen, dem ehemaligen Weissrussland. Und in diesem Roman bist du der litauische Präsident und ich der Präsident von Grosslitauen. Er hat unsere Vor- und Familiennamen verwendet.»
Wir lachen beide schallend. Wir albern herum und reden uns gegenseitig mit «Exzellenz» an. Doch Oleksandrs Antiutopie ist in Wirklichkeit kein reines Hirngespinst. In Weissrussland stehen sich schon seit vielen Jahren zwei historische Identitäten unversöhnlich gegenüber. Ein Teil der Weissrussen fühlt sich der russischen Welt im weiteren Sinne verbunden und der andere dem Grossfürstentum Litauen, zu dem fünfhundert Jahre lang das heutige Weissrussland gehört hat. Diese letzteren Weissrussen bezeichnen sich nicht ohne Grund als «Litvinen» – die Erben jenes der Geschichte anheimgefallenen Fürstentums. Und die litauischen und weissrussischen Historiker liefern sich hitzige Debatten darüber, welches der beiden Völker das wahrhaft litauische sei.
Russischer Anschluss befürwortet
In Litauen werden sogar schon beunruhigte Stimmen laut, gemäss denen es in Zukunft anstelle von Weissrussland ein Grosslitauen geben könnte, das uns nicht unbedingt freundlich gesinnt sein und Anspruch auf unsere Symbole, unsere gemeinsamen Regenten und möglicherweise sogar auf Vilnius – unsere einstige gemeinsame Hauptstadt – erheben könnte. Aber kürzlich durchgeführte Umfragen in Weissrussland haben ergeben, dass siebzig Prozent der Weissrussen für einen Anschluss ihres Landes an Russland wären oder zu dieser Frage gar keine Meinung haben. Also wird es ein Grosslitauen wohl nur in Oleksandrs Dystopie geben. Dessen dystopische Präsidenten nähern sich nun unter grossem Gelächter der litauisch-weissrussischen Grenze.
Hier gibt es zwei Schlangen. Eine für Autos mit weissrussischen Nummernschildern (sie kommt deutlich langsamer voran), die andere für solche mit litauischen Kennzeichen. Ich stelle mich in der zweiten an und erkenne bald, dass ich einen Fehler gemacht habe. «Diesmal lasse ich Sie durch», sagt der litauische Grenzer. «Aber wenn Sie in Zukunft einen Weissrussen mitnehmen, dann müssen Sie sich in der anderen Schlange anstellen.» Ich möchte einen Witz machen und sagen, dass ich keinen Weissrussen mitnehme, sondern einen Grosslitauer, aber das strenge Gesicht des Grenzers dämpft meinen überbordenden Humor. «Ich bitte um Verzeihung», sage ich. «Beim nächsten Mal weiss ich Bescheid. Mit einem Weissrussen – die andere Schlange.»
Auf der weissrussischen Seite ist die Lage genau umgekehrt. Die Autos mit litauischen Nummernschildern stehen in der längeren Schlange. Während ich eine Unmenge von Formularen und Deklarationen ausfülle, bittet eine Zöllnerin Andrei, auszusteigen. «Zweiter Fahrer», sagt sie zu ihm, obwohl Andrei noch nie im Leben irgendein Transportmittel gelenkt hat, «öffnen Sie den Kofferraum.» Bald kommt die Grenzerin mit unseren Pässen zurück. «Acht sieben acht?», wendet sie sich an mich. «Das bin ich», sage ich diszipliniert, denn das sind die Ziffern des staatlichen Kennzeichens meines Pkw. Jetzt ist Schluss mit den «Exzellenzen» – die Grenze verweist uns an unsere Plätze und versetzt uns in die Wirklichkeit zurück. Ich gebe Andrei die Landkarte: «Zweiter Fahrer, schau dir mal unsere weitere Fahrtroute an.» «Zu Befehl, acht sieben acht», erwidert Andrei.
Dörfer grenzen an Dörfer
So fahren wir über die Grenze. Verstummt und niedergeschlagen. Das ist die neue Grosse Postsowjetische Mauer, die sich von Narva bis Mariupol erstreckt, vom Finnischen Meerbusen bis zum Asowschen Meer, entlang deren nach dem Untergang des Imperiums die einen sich der westlichen Demokratie zugewandt haben, während die anderen, denen dies nicht gelungen ist, in sowjetischer Nostalgie versacken, die von neuen korrupten Diktatoren angeregt und gefördert wird.
Stellenweise hat sich diese Mauer aufgeheizt und zeigt bereits ein blutiges Aussehen. Damit meine ich die Ukraine. Auch anderenorts ist sie aufgeheizt, aber noch stabil. Ich erinnere mich daran, wie ich vor einigen Jahren an dieser Mauer in Narva war und man mir die westlichen Touristen zeigte, die sie in der Überzeugung besichtigten, dass genau an dieser Stelle der Dritte Weltkrieg beginnen werde. Dort trennt Estland von Russland nur ein kleiner Fluss, die Narva, an deren beiden Ufern zwei mittelalterliche Festungen stehen. Einander direkt gegenüber, an gegenüberliegenden Ufern. Es ist, als habe die Geschichte sie absichtlich hingestellt an diesen Ort, Auge in Auge, als eine Metapher, die so präzise wie nur irgend denkbar den Gegensatz unserer Zeit verkörpern soll – den postsowjetischen tektonischen Bruch zwischen den Menschen.
Doch dort, wo Andrei und ich diese Mauer, diese Grenze durchfahren, gibt es keine derartigen Symbole. Auf der litauischen Seite haben wir nur Dörfer gesehen, und auf der weissrussischen sind es nun fast genau dieselben Dörfer. Am Strassenrand weiden in aller Stille die Kühe und die Pferde, Menschen sind kaum zu sehen. Es fällt schwer zu glauben, dass hier schon bald, Mitte September, ein gewaltiges Militärmanöver stattfinden wird. Tausende von russischen und weissrussischen Soldaten werden hier Krieg gegen den Westen spielen – gegen uns. Und auf unserer, der litauischen Seite geht die sehr ernsthafte Angst um, dass man sich nicht mit dem Spiel begnügen wird und reale Kriegshandlungen beginnen könnten.
In Vilnius höre ich schon immerzu Diskussionen darüber, ob es im September Krieg geben wird. Und ein solches Leben in ständiger Angst, in Erwartung eines Krieges, ist unglaublich anstrengend. Es zermürbt die Menschen, und es destabilisiert die Gesellschaft. Ein Mann, der darüber nachdenkt, wie er in einer Woche, wenn der Krieg anfängt, seine Familie weiter weg, in den Westen, schicken, sich selbst ein MG besorgen und in den Kampf ziehen könnte, ist nicht mehr derselbe Mann. Er hat immer weniger Humor und ist immer weniger empfänglich für Nuancen und Zwischentöne – das gesamte Areal und alle Menschen jenseits der Grossen Mauer werden für ihn allmählich zu einem eindeutigen, gesichtslosen Feind. Und wenn du ihm zu erklären versuchst, dass die Menschen hinter der Mauer und sogar ihre autoritären Führer gleichfalls Angst vor diesem Krieg haben, weil sie seine katastrophalen Folgen verstehen, dann wird er erwidern, dass du rational denkst und logisch und dass dort, hinter der Mauer, eine andere Logik herrscht, wenn es überhaupt eine gibt.
Die wahre Bedrohung
Wir fahren auf der Landstrasse dahin, und ich frage Andrei vorsichtig: «Was meinst du – wird es Krieg geben?» «Was für einen Krieg?!» Er lacht. «Du glaubst doch nicht an Oleksandrs Antiutopie?»
Ich glaube nicht an sie. Ich bin wahrscheinlich der Letzte, der an so etwas glaubt. Ich weiss, dass aus mir mein angeborener Optimismus spricht, der mich nicht selten in die Irre führt, aber einen anderen Sensor habe ich einfach nicht, um in die Zukunft zu blicken. Deshalb behaupte ich unaufhörlich, dass es diesen Krieg nicht geben werde. Weder in einer Woche noch überhaupt irgendwann. Mein einziger Wunsch ist, dass auch seine Prämissen, die Gedanken an diesen Krieg, verschwinden, die uns schon so viele Jahre das Leben vergiften. Und nicht nur uns – auch den anderen, jenseits der Grossen Mauer.
Die wahre Bedrohung, angesichts deren selbst mein angeborener Optimismus verstummt, erblicken Andrei und ich zwanzig Kilometer von der Grenze entfernt. Es sind zwei riesige Türme – die Reaktoren des zukünftigen Atomkraftwerks Astrawez. Ein Atomkraftwerk, das kaum fünfzig Kilometer entfernt von der litauischen Hauptstadt Vilnius gebaut wird mit einer ganzen Kette von Baufehlern und Havarien, während unabhängigen Inspektoren der Zutritt verwehrt wird und das weissrussische Regime die Proteste von Ökologen, Ingenieuren und Aktivisten brutal zum Schweigen bringt. Ein atomares Monster, das im sehr wahrscheinlichen Fall einer Havarie Vilnius hinwegfegen und wohl auch ganz Litauen mit seinen zweieinhalb Millionen Einwohnern auslöschen, seine Existenz beenden würde.
Und während Litauen in militärischer und politischer Hinsicht die Unterstützung und Solidarität von Europa spürt, fühlen wir uns angesichts dieser Bedrohung völlig alleingelassen. Die EU, die von uns als Bedingung für den Beitritt eine Schliessung unseres AKW forderte, was wir gehorsam erfüllt haben, ist heute nicht einmal gewillt, unsere Hilferufe auch nur zu hören. Doch das ist ein anderes, grosses Thema: diese, unsere eigentliche Angst – die grösser ist als die Angst vor dem Krieg. Und unser deshalb ständig wachsendes Gefühl, einsam zu sein in Europa.
Marius Ivaškevičius, Jahrgang 1973, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Litauens. Er arbeitet als Journalist, Prosa- und Drehbuchautor, Dramatiker und Regisseur. – Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig.
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