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In Tschetschenien wurden Menschen in die Luft gesprengt und starben. Wurde ein Soldat beim Legen einer Sprengmine gefasst, wurde sein Name gewöhnlich verschwiegen.

Ein Tschetschene hingegen wurde unter Angaben des vollen Namens am Fernsehen gezeigt. An der Bushaltestelle beim Museum kamen bei einer Explosion fünfzehn oder sechzehn Menschen um, einschließlich kleiner Kinder. Das Regierungsgebäude wurde gesprengt. Dabei starben zahlreiche Menschen. »Wir wissen wer dies getan hat! Das Volk hat nichts zu befürchten! Es hat die Freiheit gewählt!« ließ die Regierung verlauten. Aber das Volk hatte Angst, vor der ehemaligen wie der jetzigen. Die jetzige bestand aus der ehemaligen und teilte mit ihr die Beute. Das Volk als solches gab es nicht mehr. Geblieben sind nur herumhastende, bleiche, erbärmliche Wesen mit irgendwelchen Namen, Phantome, mit gesenktem, starren Blick.
Das Volk wurde bloß zum Kampf um die Macht gebraucht. Viele wechselten im Gerangel mehrmals die Seiten – Herren der Lage waren die Russen. Sie schrieben das Drehbuch und führten Regie. Auch der Schlüssel des Theaters war in ihrer Hand. Die anderen waren lediglich Akteure und wurden gezwungen, die ihnen zugeteilte Rolle zu spielen. Wer versuchte, eigenmächtig den Text zu ändern, wurde ein für alle Mal von der Szene gefegt. Irgendwo gab es allerdings auch jene, die aufrichtig an die Freiheit, an Tschetschenien glaubten. Sie haben sich nie weder auf die eine, noch auf die andere Seite geschlagen. Viele von ihnen sind gestorben. Die restlichen wurden denunziert, ohne je herauszufinden zu können, wer sie denunziert hatte. Es gab noch einige wenige, die nie irgendwem vertraut haben. Wer vertraute, ging einen Pakt mit dem Tod ein. Der Tod hatte jedoch nicht mehr die Bedeutung von einst. Mit Ehre, Würde und Achtung hatte er nichts mehr zu tun.
Jeden Tag, jede Nacht wurden Menschen getötet. Wie eine hirtenlose Herde wurden sie von Dorf zu Dorf gejagt. Wer ihnen in die Hände fiel, töteten die Soldaten, wer ihnen entkam – gewisse Tschetschenen, die mit dem russischen Geheimdienst gemeinsame Sache machten und eigene Landsleute verrieten. Festgenommene verschwanden spurlos. Wer ihre Leichen fand, konnte froh sein. Sie geziemend bestatten zu können, war ein Trost.
Am Leben blieb nur, wer beizeiten fliehen und sich verborgen halten konnte. Viele hielten das Land für eine von Gott verfluchten Ort und verließen es. Mittellose wurden Flüchtlinge, Wohlhabende fanden in Moskau Zuflucht. In Moskau gab es keinen Krieg. Dort gab es breite, die ganze Nacht beleuchtete Strassen, Züge, Metro, Flugzeuge. Dort gab es Konzerte, Feste, Hochzeiten. Nach Belieben auch Bars, Bordelle und hellhaarige russische Mädchen. Reiche Tschetschenen vergossen von dort »Tränen« – Unser Volk leidet, das russische Volk. Sie wiederholten, was die »Herren ihnen auftrugen, erwiesen ihnen jegliche Gefallen, wenn sie nur dortbleiben durften. Auf eigene Kosten bauten sie den Russen Häuser, Tennisplätze. Gaben Millionen für sie, deren Frauen und Kinder aus, flogen sie zur Erholung auf die Kanarischen Inseln, in die Schweiz, nach Nizza.
Die Landsleute in Tschetschenien speisten sie mit leeren Versprechungen ab. Damit errichteten sie Paläste, bauten Dörfer und Straßen wieder auf. Bat man sie um die kleinste, konkrete Hilfeleistung, verschwanden sie und blieben unauffindbar. Brauchten hingegen sie hier Hilfe, beispielsweise in der Vorwahlkampagne, tauchten sie von weiß woher auf. Sie setzten sich, fassten sich an den »sorgenschweren« Kopf, redeten über die hiesige Lage, über ihre Schlaflosigkeit vor Kummer um das Schicksal des Volkes und dessen Zukunft. Sie beredeten, berieten, fragten, seufzten, rätselten, wie sie helfen könnten: »Unser Volk, das arme Volk… wir sind doch eine echte Nation, in unseren Sitten edler, kein Volk, das unserem gleich käme… Wie könnte man denn helfen, vielleicht einen Fonds gründen, für unsere Kultur, um wenigstens etwas zu retten. Ob eine Million genügt, eine Million Dollar?« Nach Erwägung und Berechnungen warfen sie ihre Scherflein hin, wie einem Kind, und verschwanden wieder, auf lange Zeit.
Flüchtlinge gaben via Internet aus der Schweiz, Frankreich, Amerika und Polen Erklärungen ab: »Mein Volk leistet dem Aggressor Widerstand. Es lässt sich von ihm nicht besiegen!« Das Volk war bereits am Rand des Abgrunds, entkräftet, erschöpft, allein, sich selbst überlassen. Es ging ihm so schlecht wie einem verwaisten Welpen. Einer warf ihm Almosen zu, der andere versetzte ihm einen Fußtritt. Das ganze Volk wurde gleichsam nach dem Sprichwort »Herr der Frau und des Pferdes ist, wer auf ihnen sitzt« behandelt. Kommt er nicht selber zurecht, sucht er anderweitig Abhilfe.
Russland verkündete allenthalben, tschetschenische Terroristen seien in Bolivien, Irak, Bosnien, Afghanistan gefasst worden. Angebliche »Terroristen« waren Männer, die Soldaten nachts aus ihren Häusern geholt hatten, die Verwandte jahrelang nicht finden konnten und für spurlos verschwunden hielten. Ohne Namen und Pass wurden sie unter Nummern gefangen gehalten, beinahe zu Tode gefoltert, mit fünfzehn-zwanzigjährigen Haftstrafen eingeschüchtert, vertraglich zur Sabotage, Teilnahme am Krieg, Mord verpflichtetet und dann in jene Länder geschickt. Gefängnisse gab es viele, das größte samt Trainingslager war in Baschkirien. Gerüchten über Verbindungen der Tschetschenen zu al-Kaida wurden verbreitet. Die Tschetschenen waren ein großes Übel, weltweit. Niemand mochte sie, niemand wollte sie sehen und hören. Auch im eigenen Land mochte sie niemand. Sie waren anders, und deshalb suspekt. Selbst ein arglos ausgesprochenes Wort wurde gleich der »rechten« Stelle hinterbracht. Keiner traute dem anderen, jeder fürchtete jeden. Es gab keinen Tag, keine Nacht, ohne dass zwanzig, dreißig umgebracht wurden, vor allem junge Männer, die neue Generation. Männer sah man kaum mehr. Wohin der Blick fiel, überall waren Frauen. Sie beschafften das tägliche Brot, erduldeten Beschimpfung und Erpressung der Soldaten. Tag und Nacht schleppten sie schwere Taschen aus Dagestan oder der Kabarda nach Tschetschenien.
BILD: Seine Wurzeln liegen in Tschetschenien sein Atelier in Leipzig, bekannt ist er auf der ganzen Welt – Zamir Yushaev baut mit seinen Bildern Brücken zwischen den Mentalitäten des kaukasischen Orients und des Okzidents.
TEXT: Musa Beksultanow erzählt von der Unmöglichkeit, entwurzelt heimzukommen und so zu tun, als könnte man weiterleben. Er spiegelt in seinen Erzählungen tschetschenische Geschichte und Gegenwart. Inspirationsquelle sind eigene Erlebnisse sowie Erinnerungen aus dem Mund älterer Tschetschenen. Kunstvoll verflochtene Handlungsstränge, prägnant geschilderte Figuren und kritische Dialoge vergegenwärtigen bewegte Jahrzehnte des Widerstands und des Ringens um Freiheit. Beksultanow bleibt er der Wahrheit verpflichtet – und schreibt weiter. (Stela’ad)
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