Immer noch dauern die Ermittlungen am Tatort in Salisbury an AFP/Adrian Dennis

„Angemessene, ernste Konsequenzen“

Nach Einschätzung der US-Regierung ist Russland „wahrscheinlich verantwortlich“ für den Giftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Yulia in Großbritannien. Den Verantwortlichen, „sowohl denen, die das Verbrechen begangen haben, als auch denen, die es in Auftrag gegeben haben“, müssten „angemessene, ernsthafte Konsequenzen“ drohen, so US-Außenminister Rex Tillerson am Dienstag.

Die US-Regierung habe „volles Vertrauen“ in die britischen Ermittlungen und die Einschätzung, dass Russland wahrscheinlich verantwortlich für die Nervengiftattacke sei, sagte Tillerson. Man gehe von versuchter Ermordung aus. Die beiden Verbündeten würden ihre Reaktionen weiterhin „eng abstimmen“.

Immer noch dauern die Ermittlungen am Tatort in Salisbury an

May von Russlands Schuld überzeugt

Die britische Premierministerin Theresa May hatte zuvor am Montag in einer Rede vor dem Parlament in London mitgeteilt, der Anschlag sei mit einer Sorte Nervengift ausgeführt worden, die in Russland entwickelt worden sei. Das verwendete Gift aus der Gruppe der Nowitschok-Substanzen sei „von militärischer Qualität“. Offizielle Stellen in Russland hätten den Anschlag entweder direkt in Auftrag gegeben oder ihn zumindest ermöglicht. Moskau müsse sich bis Dienstagabend gegenüber der Organisation für das Verbot chemischer Waffen äußern, sagte May.

Die Erkenntnisse ließen nur zwei Schlüsse zu, so die Premierministerin: Entweder der Anschlag sei ein direkter Angriff des russischen Staats auf Großbritannien gewesen, oder die russische Regierung habe die Kontrolle über das Nervengift verloren, das damit in die Hände Dritter geraten sei. Bis Dienstagabend erwarte sie sich aus Moskau eine Antwort, welche der beiden Varianten zutreffend sei.

Moskau sieht „antirussische Propaganda“

Moskau hat jegliche Beteiligung an dem Attentat abgestritten und London antirussische Propaganda vorgeworfen. Die russische Botschaft in Großbritannien hatte noch kurz vor Mays Rede die Regierung in London vor einem „gefährlichen Spiel“ mit der Öffentlichkeit gewarnt. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow hatte gesagt, der Fall Skripal sei „nicht unser Problem“. Skripal habe für einen der britischen Geheimdienste gearbeitet, und der Fall habe sich in Großbritannien zugetragen.

Sergej Skripal

APA/AP/Misha Japaridze

Sergej Skripal befindet sich weiter in kritischem Zustand (Archivbild)

Das russische Außenministerium sprach von einer „Zirkusnummer“ im britischen Parlament. „Der Schluss ist klar – es ist eine reguläre informationspolitische Kampagne, basierend auf Provokationen“, so Außenamtssprecherin Maria Sacharowa.

Sanktionen möglich

Damit dürfte sich das Verhältnis zwischen London und Moskau weiter verschlechtern. Wenige Stunden zuvor hatte May eine Krisensitzung des Nationalen Sicherheitsrats geleitet. Daran nahmen Vertreter aus Politik, der Geheimdienste und Streitkräfte teil.

Beobachter hielten es für möglich, dass Großbritannien nach Ablauf des Ultimatums Strafmaßnahmen gegen Russland verhängt. Nach Informationen der „Times“ bereitet die britische Regierung Sanktionen gegen Russland vor. Sie habe unter anderem die Ausweisung von Diplomaten und die Annullierung von Visa von Russen mit Verbindungen zum Kreml geprüft.

Die NATO zeigte sich unterdessen „sehr besorgt“ über den Einsatz von Nervengift von militärischer Qualität. Großbritannien sei ein hoch geschätzter Verbündeter und „dieser Zwischenfall“ sei für die NATO Anlass für „große Besorgnis“, erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag. Der Einsatz eines jeden Nervenkampfstoffes sei „abscheulich“ und „völlig inakzeptabel“. Die NATO stehe in der Angelegenheit mit den britischen Behörden in Kontakt.

Vater und Tochter weiter in Lebensgefahr

Der 66-jährige Russe Skripal und seine 33-jährige Tochter Yulia waren am 4. März in Salisbury südwestlich von London bewusstlos auf einer Bank aufgefunden worden. Den britischen Strafverfolgungsbehörden zufolge wurden sie Opfer eines Mordversuchs mit einem Nervengift. Ihr Zustand wird als weiterhin lebensbedrohlich, aber stabil bezeichnet.

Skripal, ein Oberst des russischen Militärgeheimdiensts, war 2006 in Russland wegen des Vorwurfs der Spionage für Großbritannien zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. Er soll russische Agenten an den britischen Geheimdienst MI6 verraten haben. Im Zuge eines Gefangenenaustauschs zwischen Russland und den USA kam er 2010 nach Großbritannien.

Nervengift in Restaurant

Insgesamt mussten 21 Menschen im Krankenhaus behandelt werden, darunter auch ein Polizist. Er ist bei Bewusstsein und ansprechbar. Hunderte Beamte der britischen Anti-Terror-Einheit ermitteln mit Unterstützung der Streitkräfte im Fall Skripal. Am Wochenende entdeckten sie in einer Pizzeria und in einem Pub in Salisbury Überreste des verwendeten Nervengifts. Besuchern beider Lokale wurde geraten, vorsichtshalber ihre persönlichen Gegenstände zu waschen.

Die späte Warnung der Behörden würde öffentlich heftig kritisiert. Auch der ehemalige Leiter des Regiments für chemische, biologische, radiologische, nukleare Kampfstoffe sprach von Versäumnissen. Seine Abteilung bei der britischen Armee wurden vor einigen Jahren aus Kostengründen geschlossen.

 

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