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„Unsachliche Regelung“

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat die verschärfte niederöstereichische Mindestsicherungsregelung aufgehoben. Diese verstoße unter anderem gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die Aufhebung gilt mit sofortiger Wirkung.

Mit der Neuregelung wollte die ÖVP-geführte Landesregierung den Bezug für Zuwanderer und Asylberechtigte einschränken. Diese Verschärfungen dürfen ab sofort nicht mehr angewandt werden. Die niederösterreichische Regelung diente auch als Vorbild für die Verschärfung der Mindestsicherung in Oberösterreich, auch andere Bundesländer änderten ihre Mindestsicherungsregelung mit dem Ziel, Flüchtlingen weniger zu zahlen.

Mindestsicherung verfassungswidrig

Die Bedingungen Niederösterreichs für die Mindestsicherung sind unsachgemäß und gleichheitswidrig, urteilt jetzt der Verfassungsgerichtshof.

ÖVP und FPÖ halten an Grundidee fest

Die ÖVP Niederösterreich kündigte nach dem VfGH-Erkenntnis umgehend eine Reparatur an. Klubobmann Klaus Schneeberger betonte, dass man dabei den Grundsätzen der aufgehobenen Regelung „treu bleiben“ wolle.

Die FPÖ Niederösterreich nehme das Urteil „selbstverständlich“ zur Kenntnis, hieß es in einer Aussendung. Es habe aber „schlagkräftige Gründe“ für die ursprünglichen Pläne gegeben, so der künftig für die Materie zuständige Landesrat Gottfried Waldhäusl (FPÖ). Er pochte weiterhin auf „einen Unterschied zwischen berufstätigen Niederösterreichern und Asylberechtigten“.

Bund will ähnliche Pläne weiterverfolgen

Auch die Bundesregierung will trotz der VfGH-Entscheidung weiter an ihren Plänen für eine bundesweit einheitliche Mindestsicherung festhalten. Damit folgt die Koalition auch einer Forderung des Rechnungshofs vom Vorjahr. Die Kontrollbehörde plädierte gegen ein Verschlechterungsverbot für die Festlegung einheitlicher Ansprüche für den Lebensunterhalt. ÖVP und FPÖ verfolgen so wie in Niederösterreich das Ziel, Zuwanderern und Asylberechtigten weniger zu zahlen. Die im Regierungsprogramm stehenden Ziele entsprechen jenen, die der VfGH nun aufhob.

Mehr als 160 Beschwerden

Die niederösterreichische Mindestsicherung (NÖ MSG) hatte den VfGH aufgrund von mehr als 160 Anträgen des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich beschäftigt. Das Landesverwaltungsgericht hatte die Aufhebung empfohlen. Hinter Anträgen stehen Beschwerden von Personen, die nach der seit 1. Jänner 2017 geltenden Rechtslage eine geringere Mindestsicherung zugestanden bekommen haben.

Deckelung widerspricht bisherigen VfGH-Sprüchen

Zur Frage der Deckelung verwies der Gerichtshof auf seine bisherige Rechtsprechung: „Auch wenn die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, so ist doch immer noch je weitere Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich.“ Es gebe also keinen sachlichen Grund, richtsatzmäßige Geldleistungen für eine Haushaltsgemeinschaft ab einer bestimmten Anzahl von Haushaltsangehörigen „abrupt zu kürzen“.

Der Gerichtshof habe sich „nicht veranlasst“ gesehen, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Das System der niederösterreichischen Mindestsicherung stellt grundsätzlich auf den konkreten Bedarf der betroffenen Personen ab. Die Deckelung hingegen begrenzt den Anspruch „in Abkehr“ von diesem System unabhängig von der Zahl der Personen mit einem fixen Betrag.

Wörtlich heißt es in dem Erkenntnis: „Damit hat der niederösterreichische Gesetzgeber eine unsachliche Regelung geschaffen: Wenngleich 1.500 Euro für bestimmte Haushaltskonstellationen ausreichend sein können, verhindert das NÖ MSG eine einzelfallbezogene und damit sachliche Bedarfsprüfung.“

Wartefrist ebenfalls aufgehoben

Neben der Deckelung betrafen die Anträge des Landesverwaltungsgerichts auch die Wartefrist (Paragraf 11a NÖ MSG). Wer sich nicht mindestens fünf der vergangenen sechs Jahre in Österreich aufgehalten hat, kann unabhängig von der Staatsbürgerschaft statt der Mindestsicherung nur eine geringere Leistung gemäß den „Mindeststandards – Integration“ beziehen. Ausnahmen gelten für in Österreich geborene Kinder von voll Anspruchsberechtigten und für Personen, die Österreich für Ausbildungszwecke oder aus beruflichen Gründen verlassen haben.

Die niederösterreichische Landesregierung begründe die Wartefrist mit dem Erfordernis der Integration sowie der Setzung eines Anreizes zur Arbeitsaufnahme. Dem hält der VfGH entgegen, dass die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft eine vorhandene Integration bereits voraussetze.

„Nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung“

Die Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer könne auch nicht mit einem Anreiz zur Arbeitsaufnahme begründet werden: „Für den Verfassungsgerichtshof ist nicht erkennbar, weshalb österreichische Staatsbürger, die innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufhältig waren, einen stärkeren Arbeitsanreiz benötigten, zumal der bloße Aufenthalt im In- oder Ausland keinerlei Rückschluss auf die Arbeitswilligkeit der Person zulässt.“

Die Regelung führe daher zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung österreichischer Staatsbürger untereinander je nach Aufenthaltsdauer in Österreich innerhalb der letzten sechs Jahre.

Verbindung mit Aufenthaltsdauer „unsachlich“

Die Anknüpfung an die Aufenthaltsdauer in Österreich sei zudem im Hinblick auf Asylberechtigte (Personen, denen internationaler Schutz bereits zuerkannt wurde) unsachlich: „Asylberechtigte mussten ihr Herkunftsland wegen ‚wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden‘ verlassen und können aus denselben Gründen (derzeit) nicht dorthin zurückkehren.“

„Asylberechtigte können daher im vorliegenden Zusammenhang nicht mit anderen Fremden (Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen), denen es freisteht, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren, gleichgestellt werden“, so der VfGH.

 

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