«Das ist nun einmal mein Stil»: Der russische Botschafter Alexander Jakowenko vor Pressevertretern in seiner Londoner Residenz (Donnerstag).

Der Propagandakrieg zwischen Grossbritannien und Russland eskaliert. Im Fall des vergifteten Ex-Agenten Sergej Skripal versucht Moskau, durch das Verbreiten von Spekulationen und offensichtlichen Unwahrheiten Zweifel an der britischen Version zu wecken.

Der Propagandakrieg um die Vergiftung des früheren russischen Doppelagenten Sergej Skripal fand am Donnerstagnachmittag (Ortszeit) in New York seine Fortsetzung. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen warf Russlands UNO-Botschafter Wassili Nebensja Grossbritannien «Goebbels-Methoden» und die Inszenierung eines «absurden Theaters» vor. Seine britische Amtskollegin Karen Pierce konterte, Grossbritannien lasse sich nicht «von einem Land belehren, das so viel getan hat, um die angemessene Aufklärung von Chemiewaffen-Einsätzen in Syrien zu verhindern».
London beschuldigt Moskau, für die Vergiftung des 66-jährigen Skripal und seiner Tochter Julia, 33, am 4. März im südenglischen Salisbury verantwortlich zu sein. Julia Skripal befindet sich bereits seit einigen Tagen auf dem Weg der Besserung; mittlerweile entwickelt sich offenbar auch der Gesundheitszustand ihres Vaters positiv.

Wenige Stunden vor dem verbalen Schlagabtausch in New York hatte in London Alexander Jakowenko, der russische Botschafter in Grossbritannien, eine Pressekonferenz abgehalten. «Ich mag das Wort ‹wahrscheinlich›», erklärte er dabei mit süffisantem Unterton. Dies war als Anspielung darauf zu verstehen, dass die Briten bisher keine Beweise für eine russische Täterschaft präsentiert haben.

Jakowenkos provokanter Auftritt

Die demonstrative Gelassenheit und das fortwährende Grinsen des Diplomaten stellten offensichtlich vor allem für die anwesenden britischen Journalisten eine Provokation dar. Auf den Vorwurf, er behandle die Angelegenheit nicht mit dem gebotenen Ernst, erklärte Jakowenko: «Das ist nun einmal mein Stil. Lesen Sie da nicht zu viel hinein. Russland nimmt das sehr ernst.»

Die Argumentation des Botschafters entsprach der Taktik, die Moskau seit Wochen anwendet: Mithilfe von Fragen zum Tathergang und Spekulationen versuchte er, Zweifel an der britischen Version zu wecken. Dabei schreckte er auch vor offensichtlichen Unwahrheiten nicht zurück: So behauptete Jakowenko, Russland habe nie Giftstoffe der Nowitschok-Gruppe besessen. In den vergangenen Tagen hatte Moskau auch die These ins Spiel gebracht, bereits kleinste Dosen derartiger Stoffe wirkten tödlich, weswegen die Skripals einen Kontakt mit Nowitschok gar nicht überlebt haben könnten. Demgegenüber verweisen britische Medien auf den Fall eines sowjetischen Wissenschaftlers, der dem Gift 1987 in einem Moskauer Labor ausgesetzt gewesen sei. Nach zehn Tagen habe er das Bewusstsein wiedererlangt, sei aber aufgrund von Nervenschäden nie wieder gesund geworden.

Denjenigen, die eine Täterschaft Russlands für wahrscheinlich halten, musste vor allem Jakowenkos treuherzige Beteuerung, sich um das Wohl der Skripals zu sorgen, als blanker Zynismus erscheinen. «Sie sind unsere Leute, russische Bürger», erklärte er. Aus dem Londoner Aussenministerium hiess es, Julia Skripal habe konsularische Hilfe durch russische Diplomaten abgelehnt.

Eine undurchsichtige Rolle spielt Julia Skripals in Russland lebende Cousine Viktoria, die am Donnerstag vom russischen Staatsfernsehen als Protagonistin eingeführt wurde. In einer Sendung wurde ein angebliches Telefonat zwischen ihr und Julia eingespielt. Für die Authentizität des Gesprächs mochte sich das russische Fernsehen nicht verbürgen; später erklärte Viktoria Skripal allerdings der BBC, sie sei sicher, dass es sich bei der Frau, mit der sie gesprochen habe, um ihre Cousine gehandelt habe.

Kein Visum für Viktoria Skripal

In britischen Medien wird nun der Verdacht geäussert, Viktoria Skripal werde von der russischen Seite instrumentalisiert. Dafür spricht unter anderem ihre Behauptung, ihre Cousine und ihr Onkel seien in Wahrheit Opfer einer Fischvergiftung geworden. Offenbar will Viktoria Skripal nun nach Grossbritannien reisen. Die russische Botschaft habe ihr dort eine Unterkunft angeboten, sagte Jakowenko am Donnerstag auf Nachfrage. Am Freitagabend wurde bekannt, dass Grossbritannien Viktoria Skripal vorerst kein Visum ausstellt. Öffentlich begründet wurde die Entscheidung nicht; ein Sprecher des russischen Aussenministeriums verlangte umgehend eine Erklärung. Dass Moskau in den kommenden Tagen noch ausgiebig auf der Angelegenheit herumreiten wird, ist zu erwarten.

Die Times will unterdessen wissen, die britischen Ermittler verfügten über Erkenntnisse hinsichtlich der Herkunft des beim Attentat verwendeten Giftstoffs. Dieser stamme aus einem Labor im südrussischen Schichany, wo das sowjetische beziehungsweise russische Militär seit den Zwanzigerjahren chemische Kampfstoffe testet. Dabei beruft sich das Blatt auf Geheimdienstquellen: Britische Agenten hätten den Geheimdienstlern verbündeter Staaten erklärt, das Gift komme aus einer Militäreinrichtung im Südwesten Russlands. Dort seien auch Tests mit kleinen Dosen Nowitschok vorgenommen worden, um zu prüfen, ob der Giftstoff für Angriffe auf Einzelpersonen tauge.
«Die Informationen, die Grossbritannien hat, deuten klar auf Schichany hin», zitiert die Times Hamish de Bretton-Gordon, einen früheren Offizier und Experten für chemische Waffen. De Bretton-Gordon nimmt offenbar an, die Russen seien nun dabei, Spuren zu verwischen: «Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie das Gift wegschrubben während wir reden», sagte er.

Fragen dürften bleiben – bis zuletzt

Derzeit untersucht die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) den Vorfall; das Resultat wird Anfang nächster Woche erwartet. Es dürfte sich mit dem Befund des britischen Forschungszentrums Porton Down decken, das nach OPCW-Standards arbeitet. Konkret heisst das, dass sich der Befund, wonach das Gift der Nowitschok-Gruppe entstammt, wohl bestätigen wird. Ob allerdings auch die Herkunft des Stoffs zweifelsfrei festgestellt werden kann, erscheint weniger sicher: Dass das Gift nur von einem staatlichen Labor hergestellt worden sein kann, gilt aufgrund seiner Komplexität zwar als unbestritten, doch erlaubt die Chemiewaffenkonvention von 1997 die Produktion solcher Giftstoffe, um zu testen, ob Gegenmittel wirksam sind.
Diese Tatsache dürfte Thesen wie jene nähren, wonach auch die Briten über das Gift verfügt und dieses angewandt haben könnten, etwa um von Schwierigkeiten beim Brexit abzulenken. Wie so oft bei Verschwörungstheorien dürfte es sich als schwierig erweisen, einen eindeutigen Gegenbeweis zu erbringen. Wer derartige Behauptungen glauben will, wird sich auch von deren Unwahrscheinlichkeit und Absurdität nicht davon abbringen lassen.

Hansjörg Müller
London
07.04.2018

(Basler Zeitung)

https://bazonline.ch