DIE ZEIT: „Unser Land, unsere Werte“ forderten Pegidaner jüngst auf einer ihrer Hassdemos. Herr Fried, Sie haben die Geschichte der Deutschen bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgt. Sind Ihnen jemals „deutsche Werte“ begegnet?

Johannes Fried: Nein. Es gibt menschliche oder kulturelle Werte, die Werte des Christentums und natürlich die westlichen Werte der Aufklärung. „Deutsche Werte“ gibt es nicht.

ZEIT: Unsere „besorgten Bürger“ würden Ihnen ein Kreuz in Schwarz-Rot-Gold entgegenhalten.

Fried: Absurd! Das Christentum ist seinem Ursprung nach so „deutsch“ wie der Islam. Beide Religionen sind, wie das Judentum, aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert.

ZEIT: Aber sind nicht, umgekehrt, die Deutschen zumindest ihrem Ursprung nach christlich?

Fried: Sie wurden, wie die anderen Völker Europas, erst christianisiert. Und sie wurden auch nur ganz allmählich zu Deutschen. Die Deutschen sind im frühen und hohen Mittelalter gleichsam in ihre nationale Existenz hineingeschlittert, lange bevor die Frage aufkam: „Was ist deutsch?“

ZEIT: Sie haben diesen Prozess 1994 in Ihrem Buch Die Anfänge der Deutschen beschrieben. Nun ist es neu aufgelegt worden – zu 25 Jahren deutscher Einheit oder passend zur Flüchtlingsdebatte?

Fried: Ersteres. Aber das Buch lässt sich auch als Kommentar zur aktuellen Debatte lesen, denn es zeigt: Die Deutschen sind kein gottgegebenes Volk, sondern ein politischer Verband, der aus vielen fremden Elementen und immer wieder auch aus Einwanderungsprozessen erwachsen ist.

ZEIT: Die Nationalisten und Romantiker des 19. Jahrhunderts haben ein anderes Bild gezeichnet. Sie haben die Germanen zu den Urdeutschen erklärt, das Nibelungenlied wiederentdeckt und das „deutsche Mittelalter“ zu einem Teil der deutschen Nationalgeschichte gemacht.

Fried: Damit übten sie großen Einfluss aus. Doch das Nibelungendeutschland, das damals erdichtet wurde, gab es nie. Auch die „deutschen Germanen“ sind eine Erfindung. Das heißt nicht, dass man von Deutschland erst sprechen kann, seit es einen deutschen Nationalstaat gibt, seit 1871. Es gibt durchaus eine deutsche Geschichte, die mehr als 1.000 Jahre zurückreicht. Nur dürfte sie den Romantikern und Nationalisten schwerlich gefallen.

ZEIT: Weshalb?

Fried: Weil sie nicht von einer einheitlichen Abstammung oder Kultur handelt. Die Anfänge der Deutschen liegen zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert. In dieser Zeit gingen sie aus dem multikulturellen Vielvölkergemisch hervor, das damals zwischen Rhein, Donau und Oder siedelte – wobei der Grad der Zivilisation von Westen nach Osten abnahm. Dort lebten vermutlich Clangesellschaften wie heute im Vorderen Orient.

ZEIT: Wann wurde dieses Gemisch „deutsch“?

Fried: Zunächst festigten verschiedene Stämme ihre Herrschaft. Sachsen, Böhmen, Bajuwaren, die deutschen Franken und andere. Zu Deutschen wurden sie durch die Herausbildung einer übergeordneten Herrschaft: durch die Entstehung des Heiligen Römischen Reiches unter den Ottonen und den Staufern zwischen dem 10. und dem 12. Jahrhundert. Ihren Namen empfingen sie in Italien.

ZEIT: In Italien?

Fried: Bevor sich die Deutschen als Deutsche definierten, wurden sie dort so genannt: Theotisci. Das Wort leitete sich vom althochdeutschendiutisc her, ein Adjektiv zu diot, „Volk“. Es bedeutet nichts anderes als „volkssprachlich“. Zum Namen wurde es vor rund 1.000 Jahren, als die Heere der Ottonen in Italien einfielen. Sie zogen in Stammesverbänden über die Alpen. Die einzelnen Kämpfer haben wahrscheinlich gesagt: Wir sind Franken, Sachsen, Alemannen, Bayern, Böhmen. Für die Italiener waren sie allesamt „Deutsche“ – Leute, die kein Latein sprachen, sondern „die Sprache des Volkes“.

JOHANNES FRIED ist Prof. em. für mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt a. M.

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