Werner Schulz, Jahrgang 1950, engagierte sich in der DDR-Friedensbewegung und saß später von 1990 bis 2005 für die Grünen im Bundestag und von 2009 bis 2014 im EU-Parlament. Heute lebt er in der Uckermark.

Ist der Westen unfair zu Russland? Dieser Vorwurf kommt in der aktuellen Debatte immer wieder auf. Völlig zu Unrecht, findet der frühere Grünen-Abgeordnete Werner Schulz. Ein Gastbeitrag.

Das schwierige Verhältnis des Westens zu Russland: Der Nordkurier berichtet darüber intensiv und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln. Neben vielen Leserbriefautoren plädierte kürzlich in einem Nordkurier-Gastbeitrag auch Brandenburgs früherer Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) für einen faireren Umgang mit Russland. Nun meldet sich der ehemalige Grünen-Abgeordnete und DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz mit einer Erwiderung zu Wort. Er kritisiert: Platzeck verdrehe die Tatsachen. Putin dürfe man nicht verharmlosen.

Unsere Welt befindet sich in einer gefährlichen Situation. Während im Weißen Haus ein schwer berechenbarer Egomane sitzt, der den Westen auf eine harte Probe stellt, herrscht im Kreml ein skrupelloser Autokrat, der zu allem fähig ist. Zum Glück existiert in den USA eine starke Opposition und aktive Zivilgesellschaft, die den Präsidenten in die Schranken weist. Russland hingegen ist das einzige Land des früheren Ostblocks, das komplett vom Geheimdienst übernommen wurde. An allen wichtigen Stellen des Staates sitzen heute Angehörige der Silowiki, ehemalige Offiziere des KGB oder der Armee. Ihr Handeln entspricht nicht dem Prinzip „Sacharow“, sondern eher der Methode „Kalaschnikow“. Darauf basierend hat Präsident Wladimir Putin in seiner Amtszeit eine tiefe Spur von Verbrechen hinterlassen.

Begonnen hat es mit dem vom Geheimdienst inszenierten zweiten Tschetschenienkrieg. Der erste war mit einer herben Niederlage für die ruhmreiche russische Armee und einem Friedensvertrag beendet worden. Diese Schmach nagte am Stolz der Nation und Putins Ego. Um einen erneuten Kriegsanlass zu finden, wurden in etlichen Städten Russlands Wohngebäude samt Bewohnern in die Luft gesprengt. Der weithin unbekannte ehemalige Geheimdienstchef Putin wollte sich so in den chaotischen Zeiten als starker Mann im Kreml
präsentieren.

Wer die Wahrheit sucht, lebt unter Putin gefährlich

Die Journalistin Anna Politowskaja, die das Geschehen recherchierte, wurde 2006 am Geburtstag Putins vor ihrem Wohnhaus erschossen. Der Geheimdienstoffizier Alexander Litwinenko, der die Kommandoaktion seiner Kollegen offen legte, wurde mit Polonium im Londoner Exil umgebracht. Der Auftragskiller, gegen den ein Auslieferungsersuchen besteht, sitzt in der Duma und genießt Immunität. Die fünf Abgeordneten, welche die Ursachen für den Krieg untersuchten, kamen mysteriös ums Leben. Ihr Bericht ist unter Verschluss. Ähnlich wie bei Stalin wird man wohl erst nach dem Tod des „lupenreinen Demokraten“ die ganze Wahrheit erfahren.

Krieg ist für Putin ein Mittel der Politik

Das betrifft auch den Giftanschlag auf Sergej Skripal in Salisbury. Die Indizien waren so erdrückend, dass die EU-Regierungschefs eindeutig Russland dafür verantwortlich machten. Vermutlich wird man aber, wie bei so vielen Auftragsmorden des KGB, die Smoking Gun nicht finden. Laut Putin soll es diese Spezialabteilung zwar nicht mehr geben. Verräter sollten seiner Meinung nach aber dennoch „ins Gras beißen oder an ihren 30 Silberlingen ersticken“. Judas hat das angeblich selbst getan. Für Russen gibt es nach wie vor letale Nachhilfe. Allein in England sind 14 Putin-Gegner auf seltsame Weise ums Leben gekommen. Neu ist allerdings, dass erstmals im Westen ein chemischer Kampfstoff eingesetzt wurde.

Im eigenen Land war man damit nicht besonders zimperlich. Bei der Befreiungsaktion im Oktober 2002 im Moskauer Dubrowka Theater starben 105 Geiseln durch den Einsatz eines bis heute unbekannten Gases. Krieg ist längst Mittel der russischen Politik. In verdeckter Form wie bei der Unterstützung der Separatisten in Abchasien, Ossetien, Transnistrien oder direkt wie gegen Georgien, im Donbass oder in Syrien. Obwohl Russland die Vernichtung der syrischen Giftgasvorräte garantiert hat, wurde dieser perfide Kampfstoff wiederholt eingesetzt. Doch wie nach dem Abschuss der Passagiermaschine
MH 17 wurde alles getan, um die Spuren zu verwischen, und durch das Dauerveto Russlands im UN-Sicherheitsrat die Ermittlung der Täter verhindert. So lässt sich alles abstreiten und durch wilde Legenden verwirren.

Dass ausgerechnet Matthias Platzeck mit Verweis auf die USA einen allgemeinen Vertrauensverlust in die Politik beklagt, ist kurios. Hatte er nicht als Ministerpräsident großspurig versprochen: „Entweder der BER fliegt oder ich fliege!“ Heute fliegt er putzmunter nach Moskau und bringt im Interesse des Deutsch-Russischen Forums die Beschwichtigung der Politik Putins unter die Leute.

Putin destabilisiert aktiv den Westen

Wenn Putin erklärt, überall einzugreifen, wo Russen leben, dann klingt das im Baltikum wie eine Kriegsdrohung. Genau das war die Begründung für Slobodan Milosevics Krieg gegen Serbiens Nachbarstaaten. Dass sich Putin einen atomaren Erstschlag vorbehält und kürzlich neue Atomraketen vorstellte, die jeden Schutzschirm überwinden können, verschärft die Sache noch.

Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron hat klar erkannt: Putin ist davon besessen, die westlichen Demokratien zu schwächen. Deswegen unterstützt er die Nationalisten vom Front National, der Lega Nord bis hin zur AfD, die ihn als Schirmherrn ihrer angestrebten Restauration betrachten. Dass sich die EU schwertut mit den Kriegsflüchtlingen, liegt voll im Kalkül seiner Beihilfe zum Mord in Syrien. Erst kürzlich wurde der Journalist Maxim Borodin, der über den Kampfeinsatz russischer Söldner im Syrien-Konflikt berichtete, in Jekaterinburg umgebracht.

Nein, die alten Formeln vom „Dialog“ oder dem „Wandel durch Annäherung“ greifen nicht mehr. Es fehlt nicht an Gesprächen. Nur haben diese, wie in Minsk bei den Vereinbarungen über die Ost-Ukraine, nichts gebracht. Je mehr sich der Westen Russland genähert hat, z.B. durch die Aufnahme in die Welthandelsorganisation, in die
G 8 oder durch konkrete Partnerschaften, desto mehr ist Putin von der anfänglichen Demokratie in eine totale Autokratie abgerückt.

Von Willy Brandt können wir indessen lernen, dass der Westen nur bei gleichzeitiger Stärke und Entschlossenheit in der Lage ist, der aggressiven Politik Putins entgegenzutreten und ihm so Zugeständnisse abzuringen.

 

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