Vor 70 Jahren ließ Stalin die Tschetschenen und Inguschen aus ihrer Heimat im Nordkaukasus nach Zentralasien verschleppen. Die Folgen wirken sich bis heute auf das Geschehen in Europas unruhigster Region aus – und auf die gesamte russische Politik.

Der Tag, an dem in Sotschi mit viel Aufwand der Abschluss der Olympischen Spiele gefeiert wird, ist zugleich der 70. Jahrestag dramatischer Ereignisse, die nur wenige hundert Kilometer nordöstlich der Olympiastadt, auf der anderen Seite des Großen Kaukasus, stattgefunden haben: Am 23. Februar 1944 begann die Deportation der Tschetschenen und Inguschen aus ihrer Heimat nach Zentralasien. Dieses Geschehen hat bis heute große Auswirkungen auf die Politik im Nordkaukasus und dadurch in ganz Russland – so wie derzeit in Sotschi, wo nach Anschlagsdrohungen nordkaukasischer Extremisten Sicherheitsmaßnahmen in einem Umfang nötig sind, wie es sie bei Olympischen Spielen noch nie gab.

Am 31. Januar 1944 ordnete das Staatskomitee für Verteidigung der Sowjetunion die Auflösung der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (TschIASSR) und die Verbringung aller ihrer tschetschenischen und inguschischen Einwohner nach Zentralasien an. Zu dieser Zeit waren die konkreten logistischen Vorbereitungen auf die Deportation allerdings längst angelaufen. So waren neue geländegängige Studebaker-Lastwagen, die aus den Lend-Lease-Lieferungen der Vereinigten Staaten an die Sowjetunion stammten, schon ab August 1943 in großer Zahl in und um die TschIASSR zusammengezogen worden.

Am frühen Morgen des 23. Februar 1944 trat die Operation „Tschetschewiza“ (Linse) in die entscheidende Phase. Die zentrale Rolle spielte das von Josef Stalins Vertrautem Lawrentij Berija geführte Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD). Die unmittelbare Leitung der Deportation lag bei Berijas Stellvertreter Iwan Serow, der 1954 zum Gründungsvorsitzenden des Komitees für Staatssicherheit (KGB) werden sollte. Insgesamt wurden zur Deportation nach Angaben Berijas vom 7. März 1944 bis zu 19 000 sogenannte „operative Mitarbeiter“ des NKWD, des Volkskommissariats für Staatssicherheit (NKGB) sowie der militärischen Gegenspionage „Smersch“ plus bis zu 100 000 Offiziere und Soldaten des NKWD eingesetzt. Außerdem mobilisierte Berija zur Erledigung von Hilfsaufgaben noch Zivilisten, darunter Russen, einige tausend Dagestaner und etwa 3000 Osseten. Dabei war der Krieg gegen Deutschland noch in vollem Gange, und man hätte eigentlich annehmen müssen, dass die Sowjetunion jeden Mann an der Front benötigt.

Noch am 23. Februar meldete Berija an Stalin, dass bis 11 Uhr Vormittag 94 741 Personen aus ihren Häusern geholt worden waren, von denen bereits 20 023 in Eisenbahnwaggons saßen. Wegen der sich verschlechternden Wetterverhältnisse gab es insbesondere in abgelegenen Bergregionen große Probleme beim Abtransport der zu deportierenden Menschen. Am 27. Februar sollen daher NKWD-Leute im Bergdorf Chaibach nach verschiedenen Angaben zwischen 200 und 750 Tschetschenen bei lebendigem Leib in einer Scheune verbrannt und Fliehende erschossen haben. Die Faktenlage ist allerdings nicht ganz geklärt – und heutige Stalin-Apologeten bestreiten, dass es überhaupt ein solches Massaker gegeben habe. Verbrennungen und Massenerschießungen insbesondere alter, gebrechlicher und kranker („nicht transportabler“) Personen dürften aber auch in anderen Ortschaften vorgekommen sein. Die Dorfältesten waren auch und gerade deswegen „Ziel“ des NKWD, weil sie bei den beiden Völkern Träger der Traditionen und Gebräuche sind und daher besonderes Ansehen genießen.

Schon sechs Tage nach Beginn der Aktion, am 29. Februar, berichtete Berija an Stalin, dass inzwischen 478 479 Menschen, davon 387 229 Tschetschenen und 91 250 Inguschen, in 177 Züge verladen worden seien, von denen 159 bereits abgefahren seien. Im Gebirge befänden sich noch rund 6000 Tschetschenen, doch auch sie würden innerhalb der nächsten beiden Tage abgeholt. Im Juli 1944 meldete Berija dann in einem Bericht an Stalin, im Februar und März seien 496 460 Tschetschenen und Inguschen deportiert worden. Dazu setzte man etwa 180 Züge mit je 65 Güterwaggons ein. 411 000 Personen brachte man nach Kasachstan, 85 500 nach Kirgistan. Dort wurden die „Spezialumsiedler“ genannten Deportierten bereits von einem ganzen Netz an „Spezialkommandanturen“ des NKWD erwartet, das bis 1955 eine totale Kontrolle über sie ausübte. Für nicht genehmigtes Verlassen des Verbannungsorts war eine Strafe von 20 Jahren Zwangsarbeit festgelegt.

Einige tausend Tschetschenen und Inguschen versuchten, sich in den Bergen und Wäldern der Deportation zu entziehen. Dort wurden sie vom NKWD als „Banditengruppen“ mit dem Ziel ihrer „Vernichtung“ erbarmungslos gejagt. Dieser Kleinkrieg war erst nach einem Jahrzehnt endgültig vorbei. Ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 7. März 1944 erklärte die Tschetscheno-Inguschische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik für aufgelöst. In einem Erlass desselben Gremiums vom nächsten Tag wurden 714 Mitarbeitern von NKWD und NKGB für ihre Leistungen bei der Deportation Orden und Medaillen zuerkannt.

Die auffindbaren Daten über die Zahl der Todesopfer während der Deportation und in der ersten Zeit des Zwangsaufenthalts in Zentralasien schwanken erheblich, doch ist die Annahme realistisch, dass durch Hunger, Kälte, Krankheiten sowie Misshandlungen von Seiten sowjetischer Aufsichtsorgane mindestens ein Drittel der Tschetschenen und Inguschen umkam – ein enormer Aderlass für die ohnedies kleinen Völker. Eine von dem russischen Ethnologen und Sozialanthropologen Valerij Tischkow redigierte Enzyklopädie der Völker Russlands hielt 1994 nüchtern fest: „Die Inguschen als Volk standen unter den Bedingungen der Herrschaft des totalitären Regimes am Rande des Verschwindens.“ Sie überlebten aber, wie die Tschetschenen, die ihnen von Stalin bereitete Hölle. Nicht ganz vier Jahre nach dessen Tod, im Januar 1957, wurde die Tschetscheno-Inguschische Republik vom Obersten Sowjet wiedererrichtet. Die beiden Völker konnten in ihre Heimat zurückkehren. Das Trauma der Deportation nahmen sie mit sich – und es blieb auch im kollektiven Gedächtnis der folgenden Generationen.

Apologeten der Deportation in der Sowjetunion und im heutigen Russland behaupten, Tschetschenen und Inguschen hätten während des Kriegs im Hinterland der sowjetischen Front Aufstände und Anschläge unternommen. Sie hätten der Roten Armee schaden und damit den Vormarsch der Wehrmacht beschleunigen wollen, die indes nur einen kleinen Teil ihres Siedlungsgebiets besetzt hatte. Das ist eine Wiederholung der pauschalen Anschuldigungen wie „Verrat der Heimat“, die in dem Erlass des Obersten Sowjets über die Auflösung der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik vom 7. März 1944 erhoben wurden. Immer wieder verwiesen wird in diesem Kontext auf die Tschetschenen Majrbek Scheripow und Hassan Israilow (getötet 1942 beziehungsweise 1944), die das – völlig unrealistische – Ziel einer Abspaltung des ganzen Nordkaukasus von der Sowjetunion verfolgt hatten. Es dürfte sich heute aber kaum noch wirklich feststellen lassen, wie umfassend ihr „Aufstand“ wirklich war. Sowjetische wie auch bestimmte postsowjetische russische Politiker, Historiker und Publizisten versuchen, ihn hochzustilisieren und seine Urheber und Teilnehmer als „Banditen“ und „Terroristen“ zu diffamieren – zur Rechtfertigung der Deportationen 1944. Allerdings vermuten verschiedene Historiker, dass die Deportation schon ab 1939/40 vorbereitet worden war. Zudem waren Israilow und seine Leute nicht einmal imstande, die laufende Deportation auch nur zu stören oder zu verzögern, von einer Verhinderung ganz abgesehen. Das bestätigte ein „unverdächtiger“ Zeuge, nämlich Berija persönlich, in seinem Bericht an Stalin vom 29. Februar 1944: „Die Operation verlief organisiert und ohne jede ernstzunehmenden Fälle von Widerstand oder andere Zwischenfälle.“ Es seien lediglich 2016 „antisowjetische Elemente“ unter den Tschetschenen und Inguschen verhaftet worden.

Drastisch unterschiedliche Bewertungen erfährt die Frage nach Kontakten zwischen dem antisowjetischen „Untergrund“ der Tschetschenen und Inguschen und der nahen Wehrmacht: Während sie von vielen tschetschenischen und inguschischen Stimmen für unbedeutend erklärt oder überhaupt in Abrede gestellt werden, werden sie auf russischer Seite nicht nur als erwiesen, sondern auch als bedeutsam für die operative Lage eingeschätzt. Doch betonte der 1984 verstorbene inguschische kommunistische Funktionär Abdul-Hamid Tangijew in seinen – im Internet in russischer Sprache zugänglichen – Erinnerungen, dass es während des Vorstoßes der Deutschen auf den Nordkaukasus 1942 in der Tschetscheno-Inguschischen Republik nicht einen einzigen politisch motivierten Anschlag oder Akt der Diversion gegeben habe; der gesamte Verkehr, das Fernmeldewesen, Medien, Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie andere Infrastruktur hätten völlig unbeeinträchtigt funktioniert.

Bis heute bemühen sich Tschetschenen und Inguschen unablässig, den Einsatz ihrer Landsleute in der Roten Armee beim Kampf gegen die ab Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierende Wehrmacht herauszustellen – allerdings so gut wie ohne Erfolg in der öffentlichen Meinung Russlands. Dazu kommt ein Aspekt, auf den unter anderen der sowjetrussische Militärhistoriker (und General der Roten Armee) Dmitrij Wolkogonow in seinem „politischen Porträt“ Stalins aufmerksam machte: Wäre dieser seiner „verbrecherischen Logik“ immer gefolgt, hätte er angesichts der Aufstellung der Wlassow-Armee auf deutscher Seite auch die Russen deportieren müssen. Stalin versuchte allerdings bekanntlich nichts dergleichen (von der praktischen Undurchführbarkeit einer solchen Aktion einmal abgesehen), sondern brachte am 24. Mai 1945 im Kreml seinen berühmten Toast auf das russische Volk aus, das unter allen Nationen der Sowjetunion das hervorragendste sei.

In Nordossetien war man nach 1944 wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Inguschen nie mehr in den Nordkaukasus zurückkehren würden. Der inguschische Politologe Jakub Patijew meinte, dass der Grund der Deportation seines Volkes nicht eine Kollaboration mit der Wehrmacht war, sondern „die geographische Lage des Ethnos und das Bemühen des Zentrums, den Lebensraum für andere auszuweiten“. Diese „anderen“ waren die besonders „prorussischen“ und „prosowjetischen“ Osseten, die offenkundig von der Deportation der Inguschen und der Auflösung ihrer Republik profitierten. Die inguschische Historikerin Marjam Jandijewa spricht von den „strategischen Interessen von Stalins Imperium“ als Hintergrund der Deportationen im Nordkaukasus. Die turkstämmigen Karatschaier und Balkaren seien (im November 1943 beziehungsweise im März 1944) deportiert worden, weil Stalin einen Eintritt der Türkei an der Seite Hitlers in den Krieg befürchtet habe.

Der amerikanische Historiker Norman M. Naimark sah einen Grund für die Deportation der Tschetschenen und Inguschen in dem Umstand, dass sie einer „Verschmelzung von russischem und Sowjetpatriotismus im Weg“ gestanden seien. Zudem verwies er auf die kulturelle und religiöse Autonomie der beiden Völker (die mit dem sowjetischen Anspruch auf allumfassende Kontrolle unvereinbar war), ihren Widerstand gegen die „Modernisierung“ in ihrer sowjetischen Variante sowie auf ihren aktiven und passiven Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der dreißiger Jahre, die ihre traditionelle Lebensweise weitgehend zerstörte.

Im de facto unabhängigen Tschetschenien der Jahre 1991 bis 1994 und 1996 bis 1999 waren beständige Hinweise auf die Schrecken der Kriege im Nordkaukasus des 19. Jahrhunderts, die mit der Unterwerfung der Tschetschenen durch das Zarenreich endeten, sowie der Deportation von 1944 ein wichtiger Teil der Rechtfertigung der Abspaltung von Russland. Auf der anderen Seite forderten während beider Kriege in Tschetschenien (1994 bis 1996 und ab 1999) extremistische russische Politiker und Medien sowie nicht wenige „einfache“ Bürger eine neuerliche Deportation der „illoyalen“ und „fremden“ Tschetschenen oder aber den Einsatz von Massenvernichtungswaffen gegen sie.

Zahllose – mitunter von russischen Behörden herausgegebene oder finanzierte – Bücher, Broschüren, Artikel sowie Materialien für Fernsehen und Internet bemühten sich, die postsowjetische, russische (und, wenn möglich, auch die internationale) Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Tschetschenen und Inguschen „schon immer Banditen“ und geradezu „genetisch“ fanatisch, unzivilisiert, ungezügelt und gewaltbereit gewesen seien. Deshalb dürften sie sich weder über die Deportation von 1944 noch über das Vorgehen der russischen Streitkräfte 1994 und 1999 wundern.

Diese Darstellung beeinflusst die in der mehrheitlich slawischen Gesellschaft, Öffentlichkeit und politischen Elite gepflegten Feindbilder. Nordkaukasier (also nicht nur Tschetschenen und Inguschen) werden oft als Verbrecher und Terroristen kollektiv verunglimpft oder rassistisch als „Schwarze“ beschimpft. So finden Forderungen wie „Schluss mit dem Füttern des Kaukasus!“ nach einer Meinungsumfrage des angesehenen und unabhängigen Moskauer Lewada-Zentrums vom Oktober 2013 über 70 Prozent Zustimmung.

Der Kreml verlangt zwecks Stärkung des Patriotismus eine „positive Geschichtsschreibung“, welche die – angeblichen und tatsächlichen – Errungenschaften, Siege und Erfolge Russlands betont. Das impliziert freilich eine Uminterpretation oder völlige Ausblendung unerfreulicher Ereignisse, und so fehlen für eine breite kritische Auseinandersetzung mit den Deportationen ganzer Völker von der südlichen Peripherie der Sowjetunion unter Stalin die Bedingungen. Stattdessen hält man in Russland bis heute an der Vorstellung fest, dass das Zarenreich im 19. Jahrhundert den „wilden Bergvölkern“ des Nordkaukasus „die Zivilisation gebracht“ habe. Nicht wenige russische Gesprächspartner fügen dem hinzu, dass diese „Mission“ Russlands, wenn nötig, bis heute auch unter Einsatz der Streitkräfte wahrzunehmen sei, weil insbesondere die Tschetschenen nach wie vor „unzivilisiert“ und überhaupt hartnäckig „nicht unsere“ seien.

Wer in Putins Russland bedauernd oder sogar bestürzt von den Zehntausenden zivilen Toten und Hunderttausenden Flüchtlingen dieser Kriege (in einer Republik, die vor dem Krieg etwa eine Million Einwohner gehabt hat) spricht, stellt sich gegen die dominierende Stimmung in der Bevölkerung und gibt sich in den Augen des Kremls als unverbesserlicher Oppositioneller zu erkennen. Übrigens begeht man den 23. Februar, der schon zu sowjetischen Zeiten der Roten Armee gewidmet war, im postsowjetischen Russland als (seit 2002 sogar arbeitsfreien) „Tag der Verteidiger des Vaterlandes“.

Die Deportation hat bis heute auch großen Einfluss auf das Verhältnis der nordkaukasischen Völker untereinander. Auf besonders dramatische Weise wurde das deutlich während der Geiselnahme in der Schule des nordossetischen Ortes Beslan 2004: Noch bevor bekannt war, dass unter den Tätern Inguschen waren, hatten Osseten schon Inguschen für das Verbrechen verantwortlich gemacht. Ein Grund für die inguschisch-ossetische Feindschaft ist eine Folge der Deportation – der Streit über den Prigorodnyj-Bezirk, den die Inguschen für ihre historische Wiege halten. Hier liegt die Ortschaft Tarskoje, die ursprünglich Anguscht hieß, wovon sich die russische Bezeichnung für dieses Volk („Inguschi“) ableitet (sie selbst nennen sich „Galgai“). Der Bezirk wurde 1934 Teil des Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Gebiets und blieb es bis 1944, als sein Territorium zum Großteil in Nordossetien aufging. Bis 1944 hatte es kaum Osseten im Prigorodnyj-Bezirk gegeben, doch dann siedelten die sowjetischen Behörden zielgerichtet Osseten aus Südossetien, dem übrigen Georgien und Nordossetien an. 1956 waren von den 33 000 Bewohnern des Prigorodnyj-Bezirks 23 500 Osseten. 1957, bei der Wiedererrichtung der Tschetscheno-Inguschischen Republik, verblieb ein Großteil des Prigorodnyj-Bezirks bei Nordossetien, was ein schwerer Schlag für die eng mit diesem Landstrich verbundene nationale Identität der Inguschen war. Sie kehrten nach 1957 aus der Verbannung jedoch ungeachtet aller Behinderungen durch die Unionsbehörden in Moskau wie der nordossetischen Führung auch in den Prigorodnyj-Bezirk zurück. Nach Angaben der Statistikverwaltung beim Ministerrat Nordossetiens lebten am 1. Januar 1989 in der ganzen Republik 32 783 ethnische Inguschen, davon 16 579 im Prigorodnyj-Bezirk. Für den Stichtag 31. Oktober 1992 nannten die nordossetischen Behörden 34 500 Inguschen in ganz Nordossetien. Tatsächlich dürften es aber 65 000 bis 75 000 gewesen sein, da seit 1957 immer mehr Inguschen im Prigorodnyj-Bezirk lebten, als offiziell gemeldet oder bei den sowjetischen Volkszählungen erfasst.

Im Frühjahr 1990 begannen in Nordossetien die Vorbereitungen zur Bildung einer „Bürgerwehr“. Ab Mitte 1991 wurden – in offenkundiger Verletzung russischer Gesetze – diese „Bürgerwehr“ sowie eine „Republikanische Garde“ aufgestellt. Parallel dazu rüstete Nordossetien sein Innenministerium auf. In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1992 kam es im Prigorodnyj-Bezirk zu ersten großen Zusammenstößen zwischen inguschischen Paramilitärs einerseits und der Miliz (Polizei), der Sonderpolizei OMON, der „Bürgerwehr“ und der „Republikanischen Garde“ Nordossetiens andererseits. Am 2. November 1992 begannen 68 000 Soldaten der russischen Armee und Paramilitärs aus Nord- und Südossetien eine Großoffensive gegen inguschische Dörfer im Prigorodnyj-Bezirk und vertrieben innerhalb weniger Tage die meisten Bewohner. Viele Inguschen betrachten diese „ethnische Säuberung“ bis heute als eine Art Fortsetzung der Deportation von 1944.

Nicht wenige Darstellungen des inguschisch-ossetischen Konflikts im Herbst 1992 übernahmen die Bilanz einer Untersuchungsgruppe des russischen Innenministeriums, der zufolge die Kämpfe 546 Menschenleben, davon 407 Inguschen und 105 Osseten, gefordert haben; es liegen aber auch erheblich höhere Zahlen vor. Die Angaben über die inguschischen Vertreibungsopfer schwanken stark, nämlich zwischen 30 000 und 70 000. Von den 16 Dörfern des Prigorodnyj-Bezirks, in denen Inguschen kompakt gelebt hatten, wurden 13 zerstört. Die Angaben über die Zahl der vernichteten Häuser schwanken zwischen 3000 und 4000; jedenfalls gehörte der ganz überwiegende Teil Inguschen. Das Ziel der Zerstörung von inguschischen Häusern war offensichtlich: Sie sollten weder den Wunsch noch die Möglichkeit haben, an die Orte ihres früheren Lebens zurückzukehren, das heißt, in Nordossetien erwartete man sich – ähnlich wie anlässlich der Deportation des ganzen inguschischen Volkes 1944 – eine „definitive Lösung“ der „Probleme“ mit den Inguschen nun wenigstens für den Prigorodnyj-Bezirk. Die nordossetischen Behörden bewiesen bei der Erfindung immer neuer Schikanen gegen rückkehrwillige Inguschen großen Einfallsreichtum. Wenig überraschend schleppte sich daher die Rückkehr der Inguschen nach Nordossetien jahrelang hin, um 2007 praktisch zum Stillstand zu kommen.

Die Kontroverse wird auch auf juristischer Ebene ausgetragen. Artikel 6 des russischen Gesetzes „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker“ vom April 1991 sieht eine „territoriale Rehabilitierung“ vor. Daraus resultierte in der Interpretation der Inguschen eine Verpflichtung zur Rückgliederung des Prigorodnyj-Bezirks an die Tschetscheno-Inguschische Republik beziehungsweise – nach deren Aufteilung 1992 – die Republik Inguschetien. In Nordossetien wird dieses Gesetz denn auch bis heute vehement kritisiert.

Konsequent findet sich bis heute in der Verfassung der Republik Inguschetien von 1994 der (von Nordossetien naturgemäß immer heftig bekämpfte) Artikel 11, der „die Rückkehr von mit ungesetzlichen Mitteln von Inguschetien abgetrennten Territorien“ – also dem Prigorodnyj-Bezirk – verlangt. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass Nordossetien in der überschaubaren Zukunft den Prigorodnyj-Bezirk freiwillig überstellen oder Moskau in dieser Angelegenheit ein „Machtwort“ sprechen könnte. Damit aber sind aus der Sicht der Inguschen die Folgen der Deportation von 1944 politisch, administrativ und demographisch einzementiert.

Weder in der Sowjetunion noch im postsowjetischen Russland kam irgendjemand für die Teilnahme an Planung und Ausführung von Stalins Deportationen aus dem Nordkaukasus vor Gericht. In Tschetschenien und Inguschetien selbst wird heute das Andenken auf Sparflamme gehalten, und auch der dortige geschichtswissenschaftliche Diskurs dazu fällt weit weniger intensiv aus, als man erwartet hätte. So ist bezeichnend, dass eine von der Historikerin Marjam Jandijewa verfasste Geschichte der Deportation in einer Auflage von nur 400 Stück erschienen ist – und zwar nicht in Russland, sondern in Georgien. Der Überblick über die Geschichte Tschetscheniens auf der Homepage von Putins Statthalter in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, handelt die Deportation 1944 in ganzen zwei lakonischen Sätzen ab. Immerhin hat das Europaparlament 2004 die Deportation als Akt des Genozids anerkannt. Doch in der heutigen inoffiziellen „Loyalitätshierarchie“ des Kremls für die nordkaukasischen Völker stehen die Tschetschenen und Inguschen wie bereits zu Stalins Zeiten auf den letzten Plätzen – und die Osseten auf dem ersten.

VON DR. MARTIN MALEK