In Tschetschenien wurde gestern der Prozess gegen Ojub Titijew, den Leiter von Memorial, abgeschlossen. Der Menschenrechtsaktivist wird nach Artikel 228 Teil 2 angeklagt, die Staatsanwaltschaft fordert die Bestrafung in Form von vier Jahren Haft in einer Strafkolonie sowie eine Geldstrafe von 100 Tausend Rubel. Das Urteil wird am Montag, 18. März, verhängt. In seinem „letzten Wort“ hat der Menschenrechtsverteidiger Ojub Titijew diejenigen benannt, die den Fall gegen ihn fabriziert haben.

In ihrem Artikel für die Zeitschrift „Kaukasische Realität“ fasste Jekaterina Neroznikova die wichtigsten Aussagen seiner letzten Worte zusammen.

Ojub Titijew: zuallererst möchte ich mein Dank aussprechen!

– Ich möchte meinen Kollegen und Freunden für die Arbeit danken, die sie in diesen 14 Monaten geleistet haben. Ich habe grossartige Freunde und Kollegen. Dank auch an die Anwälte – sie haben gezeigt, dass diese Anklage eine Anschuldigung ist, eine Fabrikation, soviel wert wie das Papier auf dem ich diese Worte schreibe – Altpapier. Ich danke den Politikern, die über die Fabrikation des Falls sprachen, dem französischen Präsidenten, der mit Putin über dieses Thema geredet hat. Grigory Yavlinsky, und Ksenia Sobchak, welche nach Tschetschenien gekommen sind und sich für mich ausgesprochen haben. Den Journalisten, die hierhergekommen sind und den Prozess thematisiert haben, den europäischen Institutionen, die dem Prozess Beachtung geschenkt haben. Und allen, die ihre Stimme gegen diese Fabrikation eines Falles erhoben haben, es sind Zehntausende, Hunderttausende von Stimmen gewesen. Danke auch an all die, welche mir Briefe geschrieben haben – ich kann sie nicht zählen. Ich habe sie zu Hunderten bekommen.

Insbesondere möchte Ich mich bei meinen Verwandten für das Leid entschuldigen, das sie wegen mir erlitten haben. Für Sie ist es viel schwieriger als für mich. Ich danke ihnen für ihre Geduld.

Der Rechtsanwalt Novikov sagte, unser Prozess habe einen Rekord gebrochen – und dies war kein einzelner Rekord. Ich bin sicher, dass dieser Prozess den Rekord von Heuchelei und Zynismus übertoffen hat. Wir waren darauf vorbereitet.

Ich, Titijew Ojub Salmanovich, habe mich am 9. Januar 2018 durch den Willen des Barmherzigen الرحيم hinter Gittern befunden. Ich akzeptiere diesen Test dankbar. Ich bin Vater von vier Kindern. Ich hoffe, dass sie den Prüfungen des Allwissenden العليم standhalten werden.

Seit meiner Kindheit wohne ich im Dorf Kurchaloy. 61 Jahre sind vergangen. In dieser Zeit haben viele Veränderungen stattgefunden, die Macht hat sich verändert, der Sozialismus ist Vergangenheit, die Demokratie hat sie ersetzt. In unserem Land existiert eine fremde Demokratie – in demokratischen Ländern wird man nicht wegen eines Klicks im Internet inhaftiert. Die Staatsduma ist sehr bemüht – jeden Tag werden Gesetze erlassen, welche die Freiheit einschränken.

Im Oktober 2017 waren wir in Moldawien – ich war mit einer Gruppe von Menschenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten unterwegs, wir haben Treffen mit Regierungsvertretern und Organisationen abgehalten. Man traf sich mit dem Justizministerium. Nur achttausend Menschen sitzen dort und die Bevölkerung beträgt mehr als 4 Millionen. Dies ist eine kleine Anzahl in einem solchen Land. Die Gesetze dort sind für die Menschen human, für die Beamten jedoch grausam. Sie schickten zwei Ministerpräsidenten und mehr als drei Dutzend Staatsanwälte und Richter ins Gefängnis.

In unserem Land sieht es etwas anders aus. Mehr als eine Million Menschen befinden sich [in der russischen Föderation] hinter Gittern, und um diese Armee zu unterstützen, gibt der Staat viel Geld aus – wahrscheinlich ein Vielfaches mehr als für die [echte] Armee.

Ich bin seit 14 Monaten hinter Gitter und kann mein Recht auf Freiheit nicht ausüben. Ich habe mich am 12. Januar 2018 an den Präsidenten des Landes gerichtet jedoch noch immer keine Antwort erhalten. Zweimal sprach Grigory Yavlinsky in meiner Unterstützung, später sprach er selbst mit dem Präsidenten über die Fälschung des Falls. Es gab keinerlei Reaktion.

Wer bin ich im Allgemeinen? Eine Stimme in der Wahlurne. Wie ich – Millionen. Andere Werte, die Menschen in diesem Land nicht repräsentieren. Und es stellt sich heraus, dass ich ein Schädling war – ich habe versucht, die Aufmerksamkeit der Behörden auf mich zu ziehen, damit diese die Bürger nicht so betrachtet, als wären sie von diesen gewählt worden.

Ich habe eine Antwort von der tschetschenischen Republik erhalten – es waren zwei knappe Zeilen. Sie sagten, dass meine Worte nicht bestätigt wurden, daher log ich. … Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Ein alter Mann ging jeden Tag zur weinenden Wand und ein Journalist beschloss, ihn zu fragen, warum er dies tat. Er sagte, dass er bereits seit vierzig Jahren gute Dinge für die Menschen, ein besseres Leben und so weiter forderte. Und was ist dein Gefühl, fragte er den alten Mann? Als ob ich 40 Jahre lang mit einer Mauer gesprochen hätte, war die Antwort.

Im Sommer 2001 fand in unserem Dorf eine Säuberung statt, mehr als 100 Menschen wurden gefoltert, fünf Bewohner meines Dorfes [buchstäblich] in die Luft gesprengt. Danach sammelte ich Material über diese Gräueltaten im Krieg, schrieb alles auf in Demut vor – in Demut vor dem alles Aufzeichnende المحصى.

Dorfbewohner sammelten Unterschriften. Wir haben naiv gedacht, dass die Unterschriften etwas bewirken, wenigstens jemand rührten und haben sie den Abgeordneten gegeben. Der Abgeordnete schrieb eine Antwort auf drei Zeilen in der Zeitung, die er selbst zu finanzieren schien – dass es eine Säuberung gab und 5 Menschen getötet wurden. Er nannte nicht einmal Namen, obwohl ich alles auf zwei Seiten beschrieben hatte.

Meine jetzigen Kollegen von Memorial kamen sehr bald auch an, darunter Natascha Estemirowa. Ich fuhr sie in Krankenhäuser, zu den Menschen, den Häusern der Opfer. Sie sollte nicht über Nacht bleiben, weil es eine Ausgangssperre gab, aber Natasha blieb und half unsere Arbeit zu beenden. Nach dieser Säuberung wurden weitere 8 Personen entführt. Ich erzählte alles über meine Kollegen.

Nachdem Memorial die notwendige Arbeit verrichtet hatte, wurden diese Personen einige Wochen später freigelassen. Sie wurden abwechselnd an verschiedenen Orten in den Bezirken Gudermes und Kurchaloyevsky verlegt. Sieben wurden freigelassen, die achte wurde nicht gefunden, stattdessen eine andere. Der Fall wird immer noch nicht ordnungsgemäß untersucht.

Dananach wurde mir ein Job angeboten und seitdem bin ich in Memorial. Ich arbeite seit 17 Jahren in dieser Organisation, und wenn wir mindestens eine Person retten konnten, dann glaube ich, dass wir nicht umsonst gearbeitet haben. In all diesen Jahren habe ich der Familie wenig Aufmerksamkeit geschenkt, ich konnte ihnen nur einen Lebensunterhalt geben. Man könnte natürlich als eine bekannte Person, die sich Menschenrechtsaktivistin nennt, alle seine Angehörigen registrieren, oder aber wie ein anderer Menschenrechtsaktivist Informationen an die Angehörigen der Entführten verkaufen. Dies ist jedoch nur der Fall, wenn Sie die Ehre sowie das Gewissen und vor allem Gott dem Erniedriger der Hochmütigen und zu Unrecht Stolzen الخافض vergessen.

Ich wurde von zwei Beamten der staatlichen Sicherheitsbehörden [welche auf das Russische Zivilgesetzbuch vereidigt sind] betäubt, die viel jünger waren als ich. Dem dritte war es gleichgültig, aber er handelte trotzdem unehrlich. An diesem Morgen warteten die Angestellten [der Polizei] an allen Ausfahrten aus dem Dorf auf mich, aber nur diese hatten Glück. Sie haben wahrscheinlich einen Preis für diese brillante Operation erhalten. Ich werde definitiv ihre Namen nennen und die Angehörige und Dorfbewohner informieren – sollen sie stolz auf ihre Söhne sein.

Dieses Verbrechen wurde von Jabrailov Deni dem Führer der Fahndung organisiert. Es folgen die Angeklagten – Hutaev, Garayev, Danchayev. Danach schloss sich der Sicherheitsbeamte Andrei Manzhikov und der Ermittler Azret Muratov dem Fall an. Sie wurden delegiert, warum sie es benötigten – es ist nicht klar, sie hätten nach Hause gehen können. Anscheinend stehen materielle Werte über der eigenen Ehre.

Der nächste war ein Dorfbewohner Namens Magomadov. Unverschämt und zynisch log er wie alle an dem Prozess Beteiligten im Allgemeinen bei der Befragung. Aus Unerfahrenheit machte er viele Fehler – er versuchte meine Unterschriften zu fälschen, schrieb viele Berichte. Wenn jemand unsere Geschichte kennt, der weiß, dass bei Denunziationen wie Magomadov sie fabrizierte einst am 31. Juli 1937, über 14 Tausend Tschetschenen auf einmal verhaftet und viel davon danach erschossen wurden.

Ermittler Salamov hat alle übertroffen – er hat den Fall innerhalb von 25 Tagen [aus dem nichts] konstruiert. Er hat zwar viele Fehler gemacht und insgesamt eine schlechte Qualifikation, aber offenbar ist er ein Protegé eines hochrangigen Beamten. Der Ermittler Khadukaev Ibragim korrigierte und korrigierte es später für 4 Monate.

Als nächstes kommt die Staatsanwaltschaft. Es ist nicht nötig, eine Ausbildung zu haben, um zu verstehen, dass die Anklage absurd ist. Aber seit 8 Monaten versucht die Staatsanwaltschaft, mich mit Dreck zu beschmieren. Beweisen Sie, dass die Aussage der Polizeibeamten die ultimative Wahrheit ist.

Der Zeuge Baskhanov war im Allgemeinen ein Meisterwerk. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft einen Narkotici vor Gericht bringen würde. Und ich hätte nie gedacht, dass der Richter diesen schändlichen Trick nicht aufhalten würde. Es ist einfach nur beschämend. Das ist ein Schlag ins Gesicht unserer Gerechtigkeit.

Der Ankläger Baytayev weiß genau, dass dies eine Fabrikation ist, aber aus irgendeinem Grund unterstützt er dies. Wahrscheinlich ist es die Arbeit wert, für sie solch eine Sünder zu werden. Schließlich sollte der Gläubige die Wahrheit nicht leugnen.

Ich fragte mich, warum die Leute logen, und fand zwei Gründe – einerseits Nutzen andererseits Angst. Beide Gründe sind erniedrigend.
Diejenigen, die diesen Fall fabriziert haben, glauben, dass sie eine Entschuldigung haben – eine Anordnung von oben. Es gab keine Anordnung von oben [bezüglich der Festnahme von Titijew]. Vielleicht gab es einen Wunsch, eine Anweisung, aber alle machten sich daran und erfüllten die Dividenden. Vor 15-20 Jahren hätte niemand geglaubt, dass ein solcher Prozess in unserer Republik möglich ist. Ich habe Angst, mir vorzustellen, was in 20 Jahren passieren wird. Ich glaube, ich werde das nicht leben.

Ich mache mir keine Illusionen – das Urteil wird ein Schuldspruch sein. Im ganzen Land gibt es keine Freisprüche. Dies beweist die volle Kontrolle der Staatsanwaltschaft über das Justizsystem des Landes.

Ich vertraue nur dem Richter الحكم als unparteiisch Richtenden المقسط und Allerhöchsten الله . Wenn er der Meinung ist, dass ich weiter hinter Gittern bleiben muss, akzeptiere ich das mit Demut. Aber der Demütiger der Unterdrücker ihrer Mitmenschen المذل hat uns befohlen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, also werden wir bis zum Ende kämpfen, bis die Unschuld voll erkannt wird.

Wie viele Menschenrechtsverteidiger können Sie töten und inhaftieren? Wann werden die Behörden endlich aufmerksam? Ich appelliere an Kollegen aus europäischen Ländern, die Möglichkeit zu finden, universelle Gerichtsbarkeiten und andere Sanktionen gegen die in diesem Fall Betroffenen anzuwenden, da in unserem Land die Untersuchung abgelehnt wird. Wenn es in unserem Land keine Beamten geben würde, die selbst ihre Mutter verkaufen würden, gäbe es weit weniger Verbrechen.

Ich bin Muslim und muss es nicht beweisen vor dem Sehenden البصير. Alle, die von Seiten der Staatsanwaltschaft gesprochen haben, betrachten sich als Muslime, aber niemand wollte die Wahrheit wissen und wiederherstellen. Als Muslim schäme ich mich zutiefst für euch. Es ist eine Schande zu sehen, dass Menschen, die sich Muslime nennen, so tief fallen können.

Der Moskauer Journalist Schura Burtin, der schon über Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial Karelien, recherchiert und geschrieben hatte, kennt Titijew schon lange und schrieb einen ausführlichen Artikel zur Geschichte des besten Boxlehrer von Tschetschenien, welche freundlicherweise von Dario Planert übersetzt wurde. Ebenfalls Lesenswert Tschetschenisches Rollenspiel von Klaus Helge Donath. Passend dazu folgender Comic.