Die Flüchtlingslager auf Lesbos lösten Diskussionen über den moralischen Verfall Europas und die Aufnahmeverpflichtung von Menschen aus Kriegsgebieten erneut und – trotz Coronavirus – in heftiger Form aus. Viele Argumente sind nachvollziehbar, manche nicht. Wenn etwa darüber gesprochen wird, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen, die an der türkisch/griechischen Grenze Einlass nach Europa begehrten, „eh nur“ Afghan*innen gewesen wären, welche keinen Anspruch auf Schutz im Sinne der Genfer Konvention hätten, wird da – so meine ich – ein falscher Diskurs eingeschlagen. Nach dem Global Peace Index ist Afghanistan weiterhin das unsicherste Land der Welt.
Im Jahr 1979 hatte die damalige Sowjetunion durch ihre Invasion die Misere in Afghanistan zwar nicht ausgelöst, aber doch ungemein verstärkt. Seit dieser Zeit befindet sich das Land am Hindukusch im ständigen Krisenmodus. Insbesondere seit 9/11, als die Urheber der Anschläge in Afghanistan ausgemacht wurden, konnten amerikanische Bomber den Krieg gegen den internationalen Terrorismus mit einer weiteren Zerstörung eines zerstörten Landes beginnen. Die Folge waren Tote zuhauf, immer wieder und in steigender Zahl waren es auch afghanische Zivilist*innen, welche weder den in diesem Land nunmehr wütenden Fundamentalisten noch den internationalen Terroristen zuzuordnen waren.
Um der grauenhaften Unterdrückung der Frauen zu entkommen, um insbesondere auch ihren Töchtern eine angemessene Zukunft zu ermöglichen, haben viele Familien die Flucht nach Europa angetreten, wo ihnen das Gesellschaftssystem vorbildlich erscheint. Wenn wir jetzt Afghan*innen als unerwünschte Migrant*innen ansehen, blenden wir eine Kriegskatastrophe von mehr als vier Jahrzenten und die Tatsache, dass Afghanistan längst ein „gescheiterter Staat“ ist, aus. Zudem, die wenigsten Afghan*innen finden Freude daran, sich von den fanatischen Gotteskriegern der Taliban drangsalieren zu lassen.
Die abartige Grausamkeit der islamistischen Taliban ist allgemein bekannt. So wurde – um nur einen besonders widerlichen Fall anzusprechen – vor einigen Jahren ein achtjähriger Bub von den Taliban erhängt (um dessen Vater, einen Polizeikommandanten unter Druck zu setzen). Genau vor diesen gottlosen Gotteskriegern fliehen afghanische Familien um ein Leben abseits fundamentalistischer Ideologien führen zu können. Den Kindern aus Afghanistan will der Schrecken nicht enden, jede Nacht hören sie die Bomben in Kabul und anderen Städten explodieren. Dort in der Realität, hier in wiederkehrenden Alpträumen. Im Besonderen ist die Volksgruppe der schiitischen Hazara in Afghanistan fortlaufender Diskriminierung ausgesetzt. Dies auch, weil sich die meisten Hazara schon äußerlich von anderen Afghan*innen dadurch unterscheiden, dass sie Nachkommen der Mongolen sind.
Meine persönlichen Erfahrungen mit afghanischen Menschen sind in der Regel positiv und erfreulich. Die Bemühungen, sich der österreichischen Gesellschaft anzupassen und das Wertesystem zu verstehen, sind jedenfalls vorbildlich. Gemeinsam mit afghanischen Menschen spiele ich in einem Fußballteam, ein Sportprojekt mit afghanischen Frauen musste aufgrund der Covid-19-Situation vorerst verschoben werden. Im Zuge der Corona Krise gab es mancherorts viel Solidarität und Verständnis in der österreichischen Bevölkerung. Vielleicht schaffen wir es diese Einstellungen auch auf Flüchtlingsfamilien anzuwenden?