In den Tschetschenienkriegen verhalfen sogenannte Filtrationslager Moskau auf brutale Weise zum Sieg. In der Ukraine sollen die Lager einen ähnlichen Zweck erfüllen. Mit einem wichtigen Unterschied.

Pro-Russische Soldaten bewachen eine Strasse vor einer Notunterkunft für Zivilisten in dem ostukrainischen Dorf Bezimenne. Bei der Zeltstadt soll es sich um ein «Filtrationslager» handeln.

Pro-Russische Soldaten bewachen eine Strasse vor einer Notunterkunft für Zivilisten in dem ostukrainischen Dorf Bezimenne. Bei der Zeltstadt soll es sich um ein «Filtrationslager» handeln.

Alexander Ermochenko / Reuters

«15 oder 20 mit Gummiknüppeln bewaffnete Soldaten standen in zwei Reihen. Als ich durch den Korridor rannte, schlugen sie mich mit ihren Knüppeln. Wir mussten uns ausziehen, sie durchsuchten unsere Kleidung. Dann nahmen sie mir alles weg, was ihnen gefiel: meine Jacke, Uhr, Geld, Mütze und einen goldenen Ring. Eine Woche lang musste ich fast nackt im Gefängnis sitzen.»

Diese Erfahrungen machte der damals 21-jährige Issa im Januar 2000 in einem russischen «Filtrationslager», wie die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch dokumentiert hat. Issa heisst eigentlich anders, sein Name wurde geändert. Er war einer von Tausenden, die die russische Armee in beiden Tschetschenienkriegen in den 1990er und frühen 2000er Jahren in solche Lager steckte.

In Russlands gegenwärtigem Krieg in der Ukraine erleben die «Filtrationslager» ein trauriges Comeback. Der ukrainische Botschafter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Jewhen Zimbaliuk, sagte, dass mindestens 20 solcher Lager in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine stünden.

Einiges deutet darauf hin, dass die «Filtrationslager» in der Ukraine einen ähnlichen Zweck wie dazumal in Tschetschenien erfüllen – und teilweise ähnlich brutale Methoden angewendet werden.

Fälle von Folter, Vergewaltigungen und Mord

Ab August 1999 führte der damalige russische Ministerpräsident und heutige Präsident Wladimir Putin Krieg gegen die abtrünnige Kaukasusrepublik Tschetschenien. Diesem Krieg war zwischen 1994 und 1996 eine misslungene russische Intervention vorausgegangen, an deren Ende Tschetschenien de facto unabhängig wurde. In beiden Kriegen setzte Russland die berüchtigten «Filtrationslager» ein, die bereits eine sowjetische Vorgeschichte haben.

«In Tschetschenien verfolgten diese Lager drei Zwecke: Erstens die Identifizierung von tschetschenischen Kämpfern. Zweitens sollten die Lager die Zivilbevölkerung einschüchtern, denn es waren auch Frauen und Kinder inhaftiert. Schliesslich gibt es überdies dokumentierte Fälle von Lösegelderpressungen», sagt Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Laut dem Kaukasus-Experten Emil Aslan vom Institut für Politikwissenschaft der Karls-Universität in Prag wurde in den Lagern geschlagen, vergewaltigt und gemordet. Die Insassen mussten zwischen Wochen und Monaten in den Lagern ausharren, bis die «Filtration» abgeschlossen war. Aslan geht davon aus, dass im zweiten Tschetschenienkrieg zwischen zehn- und zwanzigtausend Menschen die russischen «Filtrationslager» durchliefen – bei einer Bevölkerung von weniger als einer Million Menschen.

«Filtrationslager» halfen Russland, den Krieg zu gewinnen

Mit den Internierungslagern hätten die Russen auf perfide Art die Tschetschenen gefügig gemacht, erklärt Aslan. Um dem «Filtrationslager» zu entgehen, mussten sich junge Tschetschenen den russlandtreuen Paramilitärs anschliessen.

Doch dort seien sie gezwungen worden, Verwandte von Aufständischen zu töten. «Das zieht in Tschetschenien eine Blutfehde nach sich. Um selber zu überleben, mussten sie auf Russlands Seite bleiben», sagt Aslan. So sei das soziale Gefüge Tschetscheniens zerstört worden.

Die Ziele gleichen jenen aus Tschetschenien

Aus der Ukraine gibt es bis anhin nur einzelne Berichte über die «Filtrationslager» in den russisch-besetzten Gebieten. Sobald Ukrainerinnen und Ukrainer einen russischen Checkpoint passieren wollen, müssen sie sich der «Filtration» unterziehen.

Die Insassen werden nach verdächtigen Tattoos oder nach Spuren abgesucht, die darauf hindeuten könnten, dass sie Waffen getragen haben. Ihre Mobiltelefone werden nach proukrainischen Postings und Nachrichten durchsucht.

«Russland will mit den Lagern zuerst diejenigen herausfiltern, die der russische Propagandist Timofei Sergeizew als ‹aktive Nazis› bezeichnet hat, also all jene, die sich für einen unabhängigen ukrainischen Staat einsetzen», sagt Margarete Klein. Sergeizew beriet die ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und Leonid Kutschma. Im April veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti einen Gastkommentar Sergeizews, in dem er die Mehrheit der Ukrainer als «Nazis» bezeichnete und zu «Säuberungen» aufrief.

Auch ukrainische Frauen und Jugendliche durchlaufen den Filtrationsprozess. «Ebenso wie in Tschetschenien will Russland so die Zivilbevölkerung einschüchtern», sagt Klein.

Wenn die Insassen die «Filtration» erfolgreich abschliessen, erhalten sie ein Dokument, das dies beweist. Falls noch ein weiterer Verdacht besteht, bleiben sie länger inhaftiert. Manche verbleiben Wochen, andere nur wenige Tage in den Lagern.

Gebrochene Rippen und Elektroschocks

Das amerikanische Aussenministerium zitierte kürzlich nicht näher spezifizierte «glaubwürdige Berichte» über Schläge und gewaltsame Verhöre in den Lagern im Osten der Ukraine. Inhaftierte sollen aufgrund der mangelhaften medizinischen Versorgung sterben, einzelne Insassen auch gezielt getötet werden.

Bis anhin ergibt sich noch kein allgemeines Bild der Zustände in den russischen «Filtrationslagern». Nicht alle der ehemaligen Inhaftierten berichten von Gewalt. Doch der BBC erzählten Männer, die im Verdacht standen, die ukrainische Regierung zu unterstützen, von Schlägen und Folter. Ein Mann war mehrere Tage in einem «Käfig» eingesperrt, wo er weder Wasser noch Essen erhielt, nicht schlafen durfte und keinen Zugang zu einer Toilette hatte. Die Schläge der Russen haben ihm die Rippen gebrochen. Ein anderer Mann erzählt, dass russische Soldaten ihn mit Elektroschocks gefoltert hätten.

Russische Soldaten müssen in ihrer Ausbildung brutale Initiationsriten durchlaufen, die Gewaltanwendungen normalisieren. Aufgrund dessen sowie der bereits begangenen Kriegsverbrechen Russlands in Butscha und Irpin hält Margarete Klein diese Beschreibungen ehemaliger Insassen für glaubhaft: «Die übereinstimmenden Berichte sprechen dafür, dass es zu Gewaltanwendung in den ‹Filtrationslagern› kam. Bis jetzt ist allerdings noch unklar, ob die Gewalt ähnlich strukturell verankert ist wie in Tschetschenien.»

Ukrainer werden aus den Lagern nach Russland umgesiedelt

Trotz allen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich die «Filtrationslager» in der Ukraine in einem wichtigen Aspekt: Viele derjenigen Inhaftierten, die nicht als Feinde identifiziert wurden, werden anschliessend nach Russland gebracht. Die Ukraine sprach bereits im Mai von bis zu 1,3 Millionen Menschen, die gegen ihren Willen nach Russland deportiert worden seien. Russland verlautbarte, Hunderttausende von Ukrainerinnen und Ukrainern nach Russland «evakuiert» zu haben.

Die «New York Times» konnte mit einem Dutzend von ihnen sprechen. Sie waren gegen ihren Willen nach Russland transportiert worden. Teilweise mussten sie mehrere Tage mit dem Zug bis in den Fernen Osten Russlands fahren, Tausende Kilometer von der Ukraine entfernt.

Der Transport ukrainischer Zivilisten nach Russland soll laut Klein auch zu einem russischen Kriegserfolg beitragen: «Die Deportationen sind Teil der psychologischen Kriegsführung. Dadurch, dass Angehörige nicht wissen, wo sich ihre Verwandten befinden und ob diese zurückkommen werden, soll die Gesellschaft zermürbt werden.»

https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-filtrationslager-nach-tschetschenischem-vorbild-ld.1691722?fbclid=IwAR1KmvCV2t_BCyj8Cd6yXHuVjs_ku95lqTOA9Omljkp3kalhzhNqlsTfX6g