Olivier Dupuis, Abgeordneter der Radikalen im Europaparlament war gestern in Bozen, um für eine Unterstützung des Friedensplanes für Tschetschenien zu werben. Landtagsvizepräsident Hermann Thaler hat zugesagt, einen Vertreter der tschetschenischen Regierung als Zeichen der Solidarität nach Südtirol einzuladen. Ein Gespräch über den Friedensplan, die Zustände in Tschetschenien und die Irrtümer der europäischen Politik.

„WAS IN TSCHETSCHENIEN PASSIERT, IST VÖLKERMORD!“

Tageszeitung: Herr Dupuis, worin besteht die Initiative der Radikalen Partei für Tschetschenien

Olivier Dupuis: Wir arbeiten derzeit intensiv an einem Appell zur Unterstützung des Planes des Außenministers der tschetschenischen Republik von Itschkeria, Ilya Akhmadov, zur Beendigung des Konfliktes in Tschetschenien. Der Plan sieht eine begrenzte provisorische Verwaltung des Landes durch die Vereinten Nationen unter der Voraussetzung der Entwaffnung der tschetschenischen Streitkräfte und des Rückzugs der russischen Truppen vor. Nach dieser Übergangszeit, die noch genau definiert werden sollte, könnten Wahlen und eventuell ein Referendum stattfinden, bei dem abgestimmt wird, ob das Land weiterhin bei Russland bleiben soll, etwa im Rahmen einer Autonomie nach einem Südtiroler Modell, oder ob es in die Unabhängigkeit entlassen werden will.

Ein guter Vorschlag auf dem Papier, aber unter den derzeitigen Vorzeichen mit wenig konkreten Chancen. 

Die Situation ist extrem schwierig, da international momentan alles nur auf den Kampf gegen den Terrorismus konzentriert ist. Putin ist Teil dieser Allianz gegen den Terrorismus. Dennoch wächst allmählich ein Bewusstsein davon, auch in Italien, dass das, was in Tschetschenien passiert, viel schlimmer ist als das, was in Bosnien passiert ist. Über Bosnien gab es viele Informationen, über Tschetschenien kaum. Nur wenige Journalisten berichten aus dem Land und die Nachrichten erfahren nur wenig Verbreitung. Dabei nähern wir uns in Tschetschenien einem Völkermord. Der Krieg hat bislang an die 200.000 Tote gefordert bei einer Bevölkerung von einer Million. Das heißt, 20 Prozent der Tschetschenen wurden bereits ausgelöscht und wenn man die Verletzten und Verstümmelten mitrechnet, erhöht sich die Zahl nochmals um ein Vielfaches. 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung sind entweder im Land oder in den Nachbarregionen auf der Flucht. Die Hauptstadt Grozny hatte einmal 400.000 Einwohner, Jetzt sind drei Viertel der Stadt zerstört und die Menschen leben irgendwo in einem Flüchtlingslager.

Trotz dieser Tragödie vor den Toren Europas hält sich der Westen heraus. 

Die europäischen Regierungen halten sich heraus, weil viele starke wirtschaftliche Verflechtungen mit Russland haben, vor allem im Energiesektor. Tschetschenien wird auf dem Altar Wirtschaftlicher Interessen geopfert. Darüber hinaus gibt es natürlich :politische Interessen an der Stabilität der russischen Federation, für die Putin steht.

Man erfährt sehr wenig über die Lage in Tschetschenien. Wie ist das Leben abgesehen von den militärischen Operationen? 

In Tschetschenien spiegelt sich der Zustand Russlands insgesamt wieder, vor allem die Korruption. Es gibt einen von Moskau aus gesteuerten Handel mit. Petroleum und` Menschen von Seiten der russischen Streitkräfte. Wenn ein Tschetschene von den Russen entführt wird, muss die Faltlilie 1.000, 1.880 Dollar bezahlen, um ihn lebend wieder zu sehen. Selbst wenn er zu Tode gefoltert wurde, muss die Familie zahlen, um wenigstens die Leiche zu bekommen. Dieser Handel hat ungeheure Ausmaße angenommen. Dazu kommen Raubzüge und alle Grausamkeiten, die man sich nur vorstellen kann. Und es ist nicht so, dass diese unglaubliche Gewaltätigkeit auf Tschetschenien beschränkt bleibt. Die Soldaten tragen diese Gewalt in die gesamte russische Gesellschaft hinein, was sich beispielsweise darin zeigt, dass die Gewalt in den Familien enorm ansteigt.

Die Selbstmordanschläge bieten Moskau aber immer wieder bequeme Rechtfertigungen fier den Kampf gegen Uten tschetschenischen Terrorismus. 

Diese Anschläge sind Ausdruck der totalen Verzweiflung. Man kann sie nicht mit den Selbstmordanschlägen in Palästina vergleichen. In Palästina sprengen sich 18-Jährige in die Luft, die vorher in Trainingscamps ausgebildet und fanatisiert wurden. In Tschetschenien sind die Selbstmordattentäter 40-oder 50-jährige Frauen, die alle ihre Angehörigen verloren haben. Das ist ein Ausdruck der persönlichen Verzweiflung und der Verzweiflung darüber, von Europa und Amerika seit dem 11. September alleingelassen zu werden.

Warum wird dieses Problem nur in Frankreich so stark empfunden? 

In Frankreich gibt es mit Sicherheit die stärkste Sensibilität für Tschetschenien. Wahrscheinlich deshalb, weil es dort eine einflussreiche Gruppe gibt, die sich immer schon mit Russland auseinandergesetzt hat. Man denke nur an Andre Glucksmann. Aber auch in Deutschland und Italien wächst das Bewusstsein dafür. Das Problem sind die gegenwärtigen Regierungen. Berlusconi ist ein Freund Putins, Chirac, Blair und Schröder setzen im wesentlichen die Politik Kohls fort, die sich nur auf die Stabilität der russischen Föderation konzentriert. Aber es ist evident, dass diese Stabilität nur über eine wirkliche Demokratisierung: Russlands erreicht werden kann. Ein Staat, der einen Völkermord nicht nur toleriert sondern letztlich organisiert, macht das Gegenteil davon. Die gegenwärtige Position der europäischen Regierungen ist auf dem Holzweg, wenn sie glaubt, dass Russland auf diesem Weg Stabilität erlangen kann. Das ist nur möglich, wenn das Problem Tschetschenien gelöst wird.

Wie kann eine kleine Region wie Südtirol da agieren? 

Ob klein oder groß, spielt keine Rolle. Wenn das Land Südtirol einen Vertreter der legitimen tschetschenischen Regierung einlädt, dann kommt das einem Tabubruch gleich. Das bedeutet, dass man sich nicht einfach auf; die offizielle Version von Moskau verlässt. Das ist unheimlich wichtig, Weil es ein Zeichen der Hoffnung für die Tschetschenen ist.

Heinrich Schwazer

Die Neue Südtiroler Tageszeitung

http://www.radicalparty.org