Was nicht nur in Chaibach geschah: Die Deportation und Ermordung von TschetschenInnen und InguschInnen 1944 und was das mit der österreichischen Geschichte und Gegenwart zu tun hat Am 23. Februar 1944 begann die Deportation der gesamten tschetschenischen und inguschischen Bevölkerung aus dem Nordkaukasus nach Zentralasien, die Stalin am 31. Jänner 1944 angeordnet hatte. Die Aktion wurde vom NKDW generalstabsmäßig geplant. Am 17.
Februar meldete der berüchtigte NKDW-Chef Lawrenti Berija an Stalin: „Die operative Vorbereitung der Deportation von Tschetschenen und Inguschen wird demnach abgeschlossen. Nach den Vorbereitungsmaßnahmen wurden 459 486 zu deportierende Personen erfasst, einschließlich der in den mit der TschetschenoInguschetischen Republik benachbarten Regionen Dagestans sowie der in der Stadt Wladikawkas Ansässigen. In Anbetracht des Maßstabes der Operation und der Besonderheiten der Bergregion wurde beschlossen, die Deportation einschließlich der Verladung der Personen in Eisenbahnwaggons zum Abtransport innerhalb von acht Tagen zu vollziehen. Im Hinblick auf den Ernst der Operation bitte ich um Erlaubnis, bis zum Abschluss der Operation mindestens im Großen und Ganzen, also bis zum 26./27. Februar 1944, vor Ort zu bleiben.”

Am 23. Februar wurden um 2.00 morgens sämtliche Dörfer und Städte, die von Tschetschenen und Inguschen bewohnt waren, umzingelt. Um 5.00 morgens wurde den Männern der Deportationsbefehl auf Versammlungen mitgeteilt und diese zugleich entwaffnet. Wer einen Fluchtversuch unternahm wurde sofort ohne Warnung erschossen. Im Ort Chajbach, wo es den sowjetischen Behörden nicht gelungen war den Transport der Bevölkerung zu organisieren, wurde die Bevölkerung in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leib verbrannt. Insgesamt wurden zwischen dem 23. und 29. Februar über 470.000 Tschetschenen und Inguschen in Viehwagonen in die zentralasiatische Steppe transportiert. 1.272 dieser „Sonderumsiedler“ starben bereits während des Transportes, 50 wurden auf der Flucht erschossen. Am Deportationsziel in Kasachstan, wo die „Sonderumsiedler“ keine ausreichende Infrastruktur vorfanden und unter härtesten Bedingungen in der Landwirtschaft und in Bergwerken arbeiten mussten, kamen wesentlich mehr Menschen ums Leben.
Zwischen 1944 und 1953 starben durch Krankheiten und Hunger über 73.000 Tschetschenen und Inguschen, die meisten davon noch in den ersten Monaten. Damit kam fast ein Fünftel  der tschetschenischen und inguschischen Bevölkerung der Sowjetunion durch die Folgen der stalinistischen Deportation ums Leben. Nicht nur das Ausmaß des Sterbens, sondern auch seine Systematik sprechen dafür, dieses Verbrechen als Genozid zu bezeichnen, zumal als einziges Kriterium für die Deportation die ethnische Zugehörigkeit zum Tschetschenischen und Inguschischen Volk angenommen wurde. Auch tschetschenische und inguschische Funktionäre und Mitglieder der Kommunistischen Partei, treue Anhänger Stalins oder Soldaten der Roten Armee wurden deportiert. Am 29. Februar meldete der sowjetische Volkskommissar des Inneren, Lawrenti Berija, den Vollzug der Aktion an Stalin. Außer einigen wenigen Gruppen, die sich rechtzeitig in die im Februar bitterkalten und verschneiten kaukasischen Berge geflüchtet hatten, war damit die gesamte tschetschenische und inguschische Bevölkerung innerhalb weniger Tage aus ihrer Heimat deportiert worden. Innerhalb der Sowjetunion wurde die Deportation zunächst geheim gehalten. Zurückkehrende Soldaten der Roten Armee fanden 1945 oft erst vor Ort ihre Dörfer geleert vor und mussten
erst mühsam herausfinden was mit ihren Familien geschehen war. Schließlich hatten tausende Tschetschenen und Inguschen in den Reihen der Roten Armee für Stalin gegen das Deutsche Reich gekämpft und damit einen wesentlichen Beitrag zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus geleistet.

Für Stalin zählte dieser Beitrag der nordkaukasischen Bevölkerung zum Kampf gegen den Faschismus jedoch nicht. Als Begründung für die Deportation wurde angegeben, dass sich die Tschetschenen und Inguschen „im Laufe der deutsch-faschistischen Offensive auf den Nordkaukasus […] im Hinterland der Roten Armee antisowjetisch“ verhalten hätten. Der Vorwurf der Kollaboration mit den Deutschen – und damit auch mit den Österreichern, die unter deutscher Flagge für das nationalsozialistische Deutsche Reich gekämpft hatten, verbindet das Schicksal der Tschetschenen und Inguschen mit der österreichischen Geschichte. Auch wenn es nur kleine Gruppen waren, die tatsächlich mit der Deutschen Wehrmacht kollaboriert hatten, so lieferte der nationalsozialistische Angriffskrieg auf die Sowjetunion doch Stalin den Vorwand mit den lästigen aufständischen Nordkaukasiern so zu verfahren.

Dass Berija für die Organisation der Deportation auch Angehörige benachbarter Volksgruppen einsetzte – so wurden etwa 3.000 Osseten und über 6.000 Dagestani dafür herangezogen – und Teile der Tschetscheno-inguschetischen Sowjetrepublik an Nordossetien angegliedert  wurde, sollte sich für die Zukunft als schwere Hypothek erweisen, die sich auch noch auf die ossetisch-inguschischen Konflikte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auswirkte.

Die Tschetschenen und Inguschen waren nicht die einzigen, die Stalin mit ähnlichen Begründungen deportieren ließ. Im November 1943 waren die Karatschaier deportiert worden. Im April 1944 folgten die Balkaren aus dem westlichen Nordkaukasus, im Mai 1944 die Krimtataren und im Juni 1944 schließlich die Mescheten aus Georgien. All diese Deporationen fanden zu einem Zeitpunkt statt, als die Schlacht von Stalingrad geschlagen und sich die Deutsche Wehrmacht bereits im Westen der Ukraine und Weißrusslands auf dem Rückzug befand, von den vermeintlichen und wirklichen Kollaborateuren also keine reale Gefahr mehr ausging. Historiker gehen heute davon aus, dass Stalin damit weniger tatsächliche Kollaboration bestrafen wollte, als vielmehr Unruhegebiete, die für die Sowjetunion im Kaukasus schwer zu kontrollieren waren, unter die Zentralregierung zwingen wollte. Zumindest bezüglich der Tschetschenen und Inguschen, die sich schon in den 1920erJahren der Zwangskollektivierung wiedersetzt hatten, und immer wieder kleinere Aufstände
gewagt hatten, dürfte dies die Hauptmotivation gewesen sein.

Obwohl wesentlich mehr Tschetschenen in den Reihen der Roten Armee gegen Deutschland kämpften, lässt sich nicht leugnen, dass es um die bewaffnete Gruppe von Hasan Israilov tatsächlich Kontakte mit der Deutschen Wehrmacht gab und einige antisowjetische Gruppen ihre Hoffnung auf einen Sieg der Deutschen gesetzt hatten. Die von Stalin verwendete Begründung für die Deportation hatte also mit der deutschen und österreichischen Geschichte zu tun und ist auch einer Folge des deutschen Angriffskriegs auf die Sowjetunion oder anders
formuliert: Erst der Angriffskrieg, den die Generation unserer Großväter gegen die Sowjetunion geführt hatte, machte den bewaffneten Widerstand einiger tschetschenischer und inguschischer Gruppen zur Kollaboration mit dem Faschismus und lieferte damit Stalin den Vorwand für die Deportation der gesamten Bevölkerung.

Die Geschichte der Deportation, der wir heute gedenken, hat also auch mit der österreichischen und deutschen Geschichte zu tun. In einem Museum, das ich letztes Jahr in der tschetschenischen Kleinstadt Itum-Kale besuchen konnte, war eine Mundharmonika mit einem Hakenkreuz ausgestellt, die ein Soldat der Wehrmacht im Kaukasus hinterlassen hatte. Wenn wir heute der stalinistischen Deportation gedenken, müssen wir auch an die Verstrickung der österreichischen und deutschen Geschichte mit diesen Ereignissen denken.

Unsere Gesellschaft hat mit Tschetschenien nicht erst seit der Flucht tschetschenischer Kriegsflüchtlinge der beiden letzten Tschetschenienkriege zu tun, sondern hatte bereits vor bald 80 Jahren mit jenen Ereignissen zu tun, die die tschetschenische und inguschische Gesellschaft bis heute nachhaltig traumatisiert haben.

Heute gibt es nur in Inguschetien eine Gedenkstätte für die Opfer der Deportation. Ein in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny errichteter Gedenkort, der mit geschändeten Grabsteinen gestaltet worden war, wurde vom prorussischen tschetschenischen Regime vernichtet.
Vielleicht kann Wien ein Ort werden in dem die Nachkommen der Opfer von damals gemeinsam mit anderen Wienerinnen und Wienern dieser Geschichte gedenken.

Rede gehalten am 22. Februar 2018 von Thomas Schmidinger bei der tschetschenischen Gedenkfeier für die Deportierten von 1944 im Festsaal des Amtshauses für den 5. Bezirk, Schönbrunnerstr. 54, 1050 Wien

Foto: Khuseyn Iskhanov, Kulturverein ICHKERIA