Die Nach ist ruhig. Die Sterne flackerten heiter am Himmel. Der Mond gähnte, kam durch die Wolken und glitt über den Himmel. Heute haben sich Nacht und Stille gefunden. Seit langem waren sie nicht mehr so ruhig vereint. Es krachen keine Panzergeschosse, keine Leuchtraketen ärgern den Himmel. Das Dorf war eingeschlafen, im Frieden der nächtlichen Stille.
Sie kamen frühmorgens und zerfetzten die Stille. Die Fenster des Hauses klirrten vom Dröhnen der schweren Fahrzeuge, als wollten sie die Bewohner vor der nahenden Gefahr warnen. Die Hunde begangen wild zu bellen. Die Menschen sprangen aus dem warmen Bett und führten noch im Halbschlaf die gewohnten Handgriffe aus. Zeit mit Anziehen wurde nicht verschwendet, denn Alte wie Junge legten sich in den Kleidern schlafen, wie Partisanen im Wald. Die Frauen steckten die goldenen Schmuckstücke und die mageren Ersparnisse unter ihre Kleider, um sie vor den unguten Blicken ungebetener Gäste zu verbergen. Die Männer legten die Pässe bereit und versteckten alles, was entfernt an eine Waffe erinnert – zu lange Küchenmesser, Familienstücke wie Dolche der Großväter und weitere unsinnige Gegenstände, auf welche sich die Soldaten bei den «Säuberungen» jeweils stürzten und ihnen höchst kriegerische Bedeutung beimaßen. Die Soldaten verteilen sich über den Hof. Während der Säuberung legten sie außerordentliche Effizienz und großen kämpferischen Eifer an den Tag. Der Erfolg dieser Operation war ihnen sicher. Weil der Feind ohne Waffen und nicht imstande war, Widerstand zu leisten. Die Männer des Hauses standen mit finsterem Blick in der Mitte des Hofes, schweigend beobachteten sie, wie die Soldaten ihr Haus verwüsteten.
«Nun, ihr Herren, was lässt ihr den Kopf so hängen?» Jener, der ihr Anführer zu sein schien, trat auf sie zu, in seinem Ton lag Spott. «Wo ist eure kaukasische Gastfreundschaft?» – «So kommt man nicht zu Gast» antwortete der Hausherr finster. «Sogar ein Feind beachtet die elementaren Anstandsregeln.»
«Im Krieg gibt es nur eine Regel, Überrumplung!» lachte der Anführer der «Säuberer» voll Stolz auf sein Wissen. «Aber hier, unter Zivilisten, ist das unangebracht» entgegnete der Tschetschene. «Auf dem Schlachtfeld, Aug im Auge mit dem Feind, ist es etwas anderes.»
«Ach So! Man ist ja schrecklich gebildet.» Verächtlich hob der Soldat die Schultern. «Wer seid ihr denn? Nun, von Beruf?» – «Ich bin Geschichtslehrer an der Schule.» – «Aha, Schulmeister der Kriegskunst» formulierte der Soldat auf seine Art die Aussage des Lehrers. «Sie bilden wohl die zukünftige Bojewiki aus?»
«Prochorow!» laut rief er einen der Soldaten. «Hier!» Der Besitzer des gerufenen Namens kroch aus dem Keller. «Hast du etwas gefunden?» – «Nein, nichts, Genosse Sergeant.» – «Die Antwort ist nicht korrekt.» Viel sagend stellte sich der Sergeant vor ihm auf. «Du hast gefunden … Habe ich mich klar ausgedrückt?»
«Verstanden, Genosse Sergeant» Der Soldat kroch erneut in den Keller und nach kam nach einer Minute wieder heraus. «Genosse Sergeant, ich habe eine Granate gefunden, in einem Sack Mais.» Der Sergeant blickte triumphierend auf den bleich gewordenen Lehrer. «Nun, was sagen sie zu ihrer Rechtfertigung, Herr Lehrer?»
«Ihr selbst habt doch die Granate dorthin gelegt, ihr handelt gesetzwidrig.» rügte dieser. Der Sergeant lachte. «Und sie werden es beweisen. Schreiben sie doch eine Beschwerde. Reichen sie Klage ein.» Er freute sich über die missliche Lage des rechtlosen Tschetschenen. Dann befahl er: Ihn ergreifen und ins Auto!
Sogleich banden sie ihm die Hände und warfen ihn zu Boden. Seine Frau lief verzweifelt über den Hof und reif um Hilfe, doch es gab kaum jemand, der ihm hätte zu Hilfe kommen können. Rundherum, in allen Höfen, hörte man Schreie und vereinzelte Schüsse von Maschinengewehren, es geschah Unbeschreibliches.
«Genosse Kommandant» meldete jetzt per Funk der Sergeant. «Wir haben einen Bojewiki gefasst … einen Anführer … Wir haben Waffen gefunden. Wir führen eine sorgfältige Kontrolle durch … Verstanden!» Er stellte das Funkgerät ab und beugte sich über den zu Boden geworfenen Verhafteten. «Also Herr Historiker deine Geschichte ist zu Ende, jetzt beginnt eine neue – Dossier Nummer 1 – und glaub mir, solche Anklagedossiers anlegen, das können wir. Darauf kannst du dich verlassen.
Ein junges Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren, dass die Schreie und das Weinen seiner Mutter gehört hatte, stürzte aus dem Haus. Dichte kastanienbraune Haare fielen ihr über den Rücken, in ihren großen Augen stand blankes Entsetzten. «Vater» – «Geh weg, Tochter geh in Haus, schrie ihr der Vater zu.» Er versuchte, sich aufzurichten, wurde aber fest zu Boden gedrückt.
«Ach, schau mal, welch hübsches Ding!» Der Sergeant packte das zum Vater drängende Mädchen am Arm. «Wo hast du denn eine solche Schönheit versteckt?» In seinen Augen blitzen gefährliche Funken auf. Das Mädchen grub die Zähne in seine Hand. «Ah, du Miststück!» Schrie er und fasste sie an der Gurgel. «Was soll´s, wir unterhalten uns später, unter vier Augen.»
«Lass sie los» stöhnte der Vater des Mädchens. «Ich werde alles unterschreiben, was ihr verlangt. Aber rührt meine Tochter nicht an.» – «Was heißt da sie loslassen?» zischte der Sergeant zornig «Die ist doch eine Heckenschützin[2]» Die Mutter des jungen Mädchens brach vor Entsetzen fast zusammen. «Was tut ihr, ihr Ungeheur?» Sie warf sich auf den Sergeanten. «Nimm deine schmutzigen Pfoten von meiner Tochter!»
«Verschwinde, du Hexe« der Sergeant riss sich von ihr los, machte aber gar keine Anstalten, seine Beute loszulassen. Die Frau kratze wie eine Tigerin, die ihr Junges verteidigt. Außer sich vor Zorn und Schmerz verlor der Sergeant die Beherrschung, er zog die Pistole und erschoss die arme Frau aus nächster Nähe.
«Mama!» Eisiger Schauer durchfuhr die Tochter. Bewusstlos sank sie neben die Tote. «Schweinehunde!» Machtlos schlug der zu Boden gedrückte Tschetschene mit dem Kopf gegen den Boden. «Wenn ich am Leben bleibe, so werde ich euch sogar aus dem Grab herausholen!» Der Sergeant antwortete gelassen «Richtig, richtig, wenn du am Leben bleibst… Aber ich, ich werde dafür sorgen, dass dies nicht geschieht… Ins Auto mit ihm … Das Mädchen auch … Sie ist unsere Trophäe.»
Plötzlich ertönte eine durchdringende Knabenstimme. «Stehen bleiben!» Verblüfft standen alle still. In diesem Durcheinander hatte niemand den etwa zwölfjährigen Jungen aus dem Haus stürmen sehen. Jetzt stand er mit einer Granate in der Hand da, bereit, sie zu entsichern. Der Sergeant war bestürzt. «He! Kleiner!» schmeichelte er «gib die Granate her, damit scherzt man nicht.»
In den Augen des Jungen schimmerten Tränen. Er wies mit dem Kopf in Richtung der toten Mutter und der bewusstlos daliegenden Schwester. «Ihr habt genug gescherzt … Jetzt bin ich dran.» Stille trat ein. Alle warteten gebannt. Dem Sergeanten und dem Soldaten stockte der Atem. Wenn sie explodiert, kommen sie nicht mit dem Leben davon. In den Händen des Jungen war dieselbe Granate, die der Soldat dem Hausherrn erst unterschoben und dann auf den Tisch gelegt gatte, als Beweisstück. Doch aus Versehen hatte er vergessen, sie wegzuschaffen.
«Sag deinem Kleinen, er soll die Granate hergeben» zischte der Sergeant dem Tschetschenen zu, der den Blick ausdruckslos auf eine Stelle gerichtet hielt. Vater und Sohn sahen einander in die Augen. Keiner der Anwesenden konnte sich vorstellen, was in diesen beiden verwandten Seelen vorging. Beide schwiegen, aber redeten mit Augen und der Junge las in jenen des Vaters die ganze Ausweglosigkeit ihrer Lage. Auch wenn er die Granate hergibt, bekommt er den Vater nicht zurück und rettet die Schwester nicht vor Schande. An sich selbst dachte er schon gar nicht. Der Vater schloss die Augen … Man hörte eine ohrenbetäubende Explosion.
Am nächsten Tag wurde jedoch in den Nachrichten am Fernsehen gemeldet: In einem tschetschenischen Dorf, in den Bergen, stießen Soldaten bei einer planmäßigen Säuberungsoperation auf eine Gruppe von Kämpfern, unter ihnen zwei Heckenschützinnen. Ein Gefecht entbrannte, die Kämpfer sind vernichtet, die Soldaten in Erfüllung ihrer Pflicht heldenhaft gefallen. Ihre Namen werden zu Ordensverleihung vorgeschlagen. Posthum
Dank an Maschar Aidamirowa
Wortlos reicht das junge Mädchen den in Zellophan eingewickelten Stoffrest der Schwester. «Daran haben wir ihn erkannt», flüstert die Ältere, «ein Hemdfetzen.» Am 25. April war Vater Schirwani nach einer Razzia russischer Militärs spurlos verschwunden. «Sie kontrollierten die Pässe und taten so, als wäre nichts. Plötzlich drängten sie ihn auf die Straße zu einem Mannschaftstransporter.» Bis im Mai fehlte jede Spur von dem 51-Jährigen, der in Alchan-Kala, einem 20 000-Seelen-Ort in der Nähe von Grosny, dem Ältestenrat angehörte.
Weder Militärs noch Staatsanwaltschaft noch Tschetscheniens Pro-Moskau-Regierung und wen sie sonst noch alles um Aufklärung gebeten hatten, konnten oder wollten etwas über den Verbleib des Vaters von elf Kindern wissen. Eine alltägliche Geschichte im Kaukasusfeldzug, der das abtrünnige Tschetschenien seit drei Jahren zur freiwilligen Heimkehr in den russischen Rechtsstaat motivieren will. Erst ein flüchtiger Bekannter, ein Militär, hatte Erbarmen und setzte die Familie Kitajew auf die richtige Fährte. Eine blutige, bestialische Spur. Mit Schirwani verschwanden am selben Tag noch drei andere Männer. Der Hinweis führte zu einem fünfstöckigen Gebäude, das auf dem Terrain eines verlassenen Getreidesilos abseits des Ortes gelegen ist und das die Militärs vorübergehend in eine Folterkammer verwandelt hatten. Ein Jugendlicher will einen bis zu den Oberarmen mit Blut besudelten Uniformierten gesehen haben, als der das Haus verließ. Minuten später sackte der Bau nach einer Sprengung zusammen.
Auf dem meterhohen Ziegelschutt graben die Dorfbewohner mit bloßen Händen nach sterblichen Überresten. Schirwanis Vater findet den Oberarm seines Sohnes mit dem Hemdfetzen, am nächsten Tag ein Bein ohne Fuß und einen Teil der Schulter. «Allah hat mir ein Zeichen gegeben, ich konnte meinen Sohn wenigstens begraben», sagt der Alte gramgebeugt. Sein Sohn habe die Wahhabiten, die islamistischen Fundamentalisten in Tschetschenien, gehasst, meint er. Auch von anderen Vermissten wurden Leichenteile gefunden, «aber kein einziges inneres Organ», erzählt der Alte mit tränenerstickter Stimme. Hinweise auf Verstümmelungen bei lebendigem Leib und rituelle Tötungen häufen sich. Die sieben Brüder haben sich aus Angst vor den Todeskommandos bei fernen Verwandten versteckt.
«Satschistka», Säuberung, nennt das Militär solche Maßnahmen. Es war die zweite innert eines Monats. Eine Vergeltung, glauben die Einheimischen, weil sie es gewagt hatten, sich über die Verbrechen der Militärs zu beschweren. Sie suchen auch für ein Gemetzel nach einer rationalen Begründung. Malkan Asujewa hat in diesen Tagen zwei ihrer drei Söhne verloren, der Älteste fiel im ersten Tschetschenienkrieg. Sie ist gefasst, bewegt sich wie in Trance, ein Enkel versteckt sich hinter ihrer Schürze. Am 28. April drangen 20 Bewaffnete auf ihren Hof. Der Kommandant ermunterte seine Soldaten, Malkan zu vergewaltigen. Die bis auf die Unterwäsche entblößte ältere Frau wehrte sich wie von Sinnen. Die Militärs ließen erst von ihr ab, als die Kinder zu schreien anfingen. Das abziehende Militär verwüstete die Einrichtung und nahm die Söhne Ruslan und Schamilchan mit. Am nächsten Tag lagen ihre Leichen vor der Moschee. An Ruslans Händen fehlten die Finger, sie waren offensichtlich durch Pistolenschüsse abgetrennt worden, neben Schnittwunden und sichtbaren Knochenbrüchen waren Fleischfetzen aus den Körpern herausgerissen worden. «Wir haben der Mutter die Leichen nicht gezeigt», sagt ein Nachbar.
Der 25-jährige Ruslan war beim Erziehungsministerium Tschetscheniens als Fahrer angestellt. Den Dienstwagen steckten die Soldaten in Brand und walzten ihn dann mit einem Panzer platt. Nie hätten die beiden Asujews etwas mit Wahhabiten oder Rebellen zu tun gehabt, meint der Nachbar. Wer auf Seiten der Fundamentalisten gekämpft hat, kann bei den meisten Tschetschenen schon lange nicht mehr mit Nachsicht rechnen. Ein Zehntel vielleicht hält noch zu ihnen. «Warum konnten sie mir den Kleinen nicht lassen», seufzt die 71-jährige Magomadowa. Ihre Söhne Schirwani und Adlan, die sich den Rebellen angeschlossen hatten, fielen am 26. April bei einem Schusswechsel mit russischen Truppen. Die beiden Brüder Scharani und Roman waren am Vortag auf der Straße festgenommen worden, Sippenhaft. Seither sind sie verschollen. Roman, der kleinere, litt seit der Kindheit an einer leichten Behinderung, erzählt die Mutter, nie habe er einer Fliege etwas zuleide tun können. Schafe hat er gehütet. Ein fernes zartes Lächeln huscht über ihr Gesicht. «Wie Hunde stürzten sie sich auf meine Söhne.» Die alte Frau ist verwirrt, zwischendurch erzählt sie von Ziegen und Hausrat, alles wurde gestohlen. «Nicht einmal die alten Latschen haben sie stehen lassen.»
Tochter Assja sitzt wortlos daneben, sie ist Ärztin, arbeitet aber schon lange nicht mehr in ihrem Beruf. Sie hat Angst, Angst vor den Militärs, die ihr unterstellen könnten, Rebellen versorgt zu haben. Oft würden Beweise für einen Schuldspruch vor Gericht nicht reichen, hatte ein Geheimdienstler freimütig eingeräumt. Daher greife man gelegentlich zur Selbstjustiz. Verfassungsmäßige Ordnung nennt Moskau das. Inzwischen wird auch Jagd auf Männer gemacht, die vom Kreml amnestiert worden waren. Im Stellwerkhäuschen auf dem Bahnhof hat sich die Dorfverwaltung notdürftig einquartiert. Früher war Alchan-Kala eine ziemlich wohlhabende Industriesiedlung. Seit die einzige Brücke gesprengt ist, kann man den Ort von Süden nur über eine Hängebrücke und von Norden auf einem verschlammten Weg erreichen. Die Siedlung ist ein Käfig. Militärs wissen das zu schätzen.
Es sind nicht die berüchtigten Todesschwadronen, die auf eigene Faust agieren, nächtens ausschwärmen und Gefangene machen, um Lösegeld zu erpressen. Nach Alchan-Kala kommen reguläre Truppen mit einem regulären Marschbefehl. Dennoch weiß niemand, wer die Häscher wirklich sind. Der Befehl Nummer 80, den der russische Kommandant Moltenskoi im März erließ, schreibt vor, dass Lokalverwaltung und Staatsanwaltschaft bei Säuberungen einzuschalten sind und «Kontrolleure» sich auszuweisen haben. Eine Liste der inhaftierten Personen ist an die örtliche Administration zu übergeben. «Sie lachen uns aus, wenn wir nach ihrer Identität fragen», sagt eine Frau in der Verwaltung. «Der Befehl ist für die Uno, er ist ein Feigenblatt, alles andere regeln Gewalt und Willkür.» Die 202. Brigade des Innenministeriums stecke dahinter, vermutet ein Mann, der indes anonym bleiben will.
In Alchan-Kala haben längst Frauen das Regiment übernommen. Eigentlich seien sie des Erzählens müde. Wozu das alles noch, sagen sie, die Welt habe Tschetschenien nach dem 11. September ohnehin «abgeschrieben». Malika Umaschewa, die Bürgermeisterin, hat aber nicht aufgegeben. Sie bietet den Militärs die Stirn. Auch ihr Neffe Uzu- jew wurde ermordet, nachdem er tagelang mit dem «Lügendetektor» gefoltert worden sei. Am Morgen nach der Freilassung stürmen Einheiten ins Haus und erschießen den Neffen im Bett. Danach beginnt die Beweisaufnahme: Waffen werden angeschleppt, der Hof umgegraben und der «Fund» auf Video aufgezeichnet.
Nach der ersten Säuberung hatte die in Moskau ausgebildete Pädagogin einen Fehler begangen. Sie war auf das Drängen des Militärstaatsanwalts eingegangen und bestätigte, dass es während der Säuberung keine Rechtsverletzungen gegeben hätte. «Malika, setz den Stempel drunter, dann ziehen sie ab», soll er sie beschworen haben. Auch der Ältestenrat stimmte zu. Zwanzig Minuten später verwüsten Militärs das Krankenhaus und fallen noch einmal über den Ort her. Der Staatsanwalt soll sich später entschuldigt haben, auch er sei von seinem Vorgesetzten belogen worden. Keine Waffengattung kennt einen General Namens Bronizkij.
Die nächste Säuberung beginnt am 25. April. Neunmal durchkämmen sie das Haus, weil Umaschewa den Stempel verweigert. Ganz nebenbei rollt sie den Teppich beiseite und zeigt auf die Einschussstellen der MP-Salven. Danach hätten sie die Gasleitung aufgedreht und Sprengstoff danebengelegt. Umaschewa bleibt eisern. Mittags melden Moskaus gleichgeschaltete Medien, 600 000 US-Dollar und ein halber Eimer mit Brillanten sei bei ihr entdeckt worden. In den Abendnachrichten werden die Dollars zu Blüten. 15 Tote bleiben zurück. Mehr als 150 Tschetschenen sind seit Ausbruch des Krieges 1999 getötet worden, weit über hundert werden vermisst. Wo sich die Terroristen verstecken, verschweigt Umaschewa nicht: «in Chankala», dem Stabsquartier der russischen Truppen. Unterdessen ziehen die Marodeure weiter. In Mesker-Jurt, das zweieinhalb Wochen von der Außenwelt abgeschlossen war, starben bis zum 11. Juni acht Menschen, über zwanzig werden vermisst. Nicht einmal die tschetschenische Polizei der prorussischen Regierung erhält Zutritt. In Duba-Jurt sind Säuberungen noch im Gang. Hinweise auf Verstümmelungen bei lebendigem Leib und rituelle Tötungen häufen sich.
Am Ortseingang von Awtury ist für den Krankenwagen, den Ruslan steuert, Schluss. Kolonnen von Militärfahrzeugen säumen die Hauptstraße. Soldaten schirmen das Dorf hermetisch ab. Schon den dritten Tag durchkämmen russische Militärs den Ort. «Satschistka», Säuberung, nennen sie diese berüchtigten Blutorgien. Nicht nur Ruslan wurde zurückgewiesen, auch der Kreisverwaltungschef, ein Tschetschene, und seine Polizisten kamen nicht weiter. Dies, obwohl der «Befehl 80» aus der Feder des Oberkommandierenden der russischen Truppen in Tschetschenien die Beteiligung einheimischer Beamter ausdrücklich vorschreibt. Doch was ist ein kleiner Regelverstoß gegen das, was sich hinter dem Ortsschild zuträgt? Bei der Suche nach vermeintlichen Rebellen lassen sich Militärs nicht auf die Finger schauen. Denn diese Finger rauben und quälen, morden und stehlen, erniedrigen und vergewaltigen.
Chalimats Haus haben die Männer an diesem Morgen schnell abgehakt. Nach der x-ten Durchsuchung in wenigen Monaten gäbe es nichts mehr zu holen, meint die 45-jährige Witwe. Ihre Söhne habe sie woanders, wo es hoffentlich sicherer sei, untergebracht. Chalimat packt noch schnell ein Passfoto ihres Mannes ein, sie will nun doch ihre Geschichte erzählen. Draussen taucht die Wintersonne die Umgebung in ein fröhlich gleißendes Weiß, der Himmel besticht mit einem verführerischen Blau. Sobald sich die Soldaten ein Stück entfernt haben, kehren Kinder mit selbst gebastelten Eishockeyschlägern auf die Straße zurück. Kriegsalltag auch das.
Chalimat hat ihren Mann verloren. Sultan war Lastwagenfahrer und gehörte zu jenen Tschetschenen, die sich freuten, als die Russen einmarschierten, um dem Chaos des unabhängigen «Itschkeria» ein Ende zu bereiten. Jahre hatte die Familie im Süden Russlands gelebt, bis sie aus Heimweh 1994 kurz vor Ausbruch des ersten Krieges zurückkehrte. Im Sommer nahmen Sondereinheiten einen Sohn fest, Sultan machte sich auf die Suche, die Festnahme konnte doch nur ein Versehen sein. Er fand den Sohn, Militärs warfen ihn ihm, von Folter und Schlägen entstellt, vor die Füße. Sultan war außer sich und ging mit bloßen Händen auf die Folterknechte los. Dafür sollte er büßen; es müssen unbeschreibliche Qualen gewesen sein. Tagelang pfählten ihn seine Häscher. «Zum Schluss führten sie», erzählt Chalimat aus Scham auf Tschetschenisch weiter, «ein elektrisches Gerät in den After ein und rührten die Eingeweide durcheinander.» Der Körper war über und über mit Brandwunden ausgedrückter Zigarettenkippen übersät. Chalimat fand Sultan nach elf Tagen, drei Tage sollte er noch leben. Sie fand sogar Ärzte, die bereit waren, die wahre Todesursache anzugeben. Inzwischen ist das undenkbar, meint ein Arzt in einem benachbarten Kreisspital. Er schaut zur Tür, durch die gerade eine Krankenschwester hinausgegangen ist, und wird nachdenklich. Der tschetschenische Begleiter versteht das Zeichen sofort und verlässt den Raum. Nur ein Bruchteil aller Misshandelten suche noch Hilfe im Spital. Die Ärzte sind verpflichtet, alle Patienten dem Geheimdienst zu melden. Dieser kommt dann vorbei und verhaftet die Opfer aus dem Krankenbett heraus. Der junge Arzt leidet, er will helfen und macht sich doch zum Komplizen. Plötzlich sagt er: «Wenn jeder nur Angst hat, ändert sich nie etwas», steht auf, besorgt einen Schlüssel, schließt einen der vielen Stahlschränke auf und holt ein Kriegsjournal heraus. Das liest sich so: «1. November, Adlan Aslanchanow, 11. und 12. Rippe gebrochen, Brustkorbhämatome, schwere Gehirnerschütterung, rechte Niere lädiert. Zusatzvermerk: Angeblich auf der Kommandantur zusammengeschlagen.» Ein typisches Opfer einer Säuberung.
Chalimat hat das ärztliche Gutachten und Sultans Totenschein vor den Söhnen versteckt. Aus einem Grund, der sie innerlich zur Verzweiflung treibt. Wenn die Kinder der bestialischen Brutalität gewahr werden, mit der der Vater getötet wurde, werden sie Rache verlangen. Allein die tschetschenische Tradition gebietet das. Wie will die Witwe das verhindern? Den jüngeren Sohn hat sie zum Dienst in die russische Armee in Tschetschenien gesteckt, den älteren schickte sie mit 500 US-Dollar nach Kasachstan. Dorthin, wohin Stalin das ganze Volk 1944 deportieren ließ. Dennoch ahnt die Frau, dass es nur ein Aufschub ist. Wenn die Armeeführung den familiären Hintergrund kennen würde, hätte sie den Jüngsten nicht aufgenommen, erzählt der Milizionär Rustam. Das Misstrauen sitzt tief, selbst die moskautreue Polizei erhält keinen Zugang zu schweren Waffen.
Awtury liegt am Fuß der kaukasischen Gebirgskette. Einheimische nennen die Gegend «Todeszone». Wegen der nahen Berge, die den Aufständischen als Rückzugsort dienen, finden dort ständig Säuberungen statt. Ausserdem, so flüstern Einwohner hinter vorgehaltener Hand, operiere in der Gegend eine Todesschwadron, die SSG 1, die sich in einem früheren Landwirtschaftsbetrieb eingenistet habe und die dem Geheimdienst unterstehen solle. Sie rücke nachts aus und verschleppe, wen sie in die Finger bekomme. Auch in Samaschki schlugen Moskaus Marodeure letzte Woche wieder zu. Dutzende Male müssen es gewesen sein. Die Leute haben aufgehört, mitzuzählen, meint der Mufti, dessen Sohn sich vor langem den fundamentalistischen Wahhabiten angeschlossen hat. Eigentlich wäre das Grund genug für Sippenhaft, doch blieb der Geistliche bisher verschont. Er wohnt in einem stattlichen Anwesen gegenüber der russischen Kommandantur, einer umfunktionierten Konservenfabrik. Schon im Kaukasus-Feldzug machte Samaschki von sich reden als Ort des ersten systematischen Massakers.
Der Mufti kennt die Familien der letzten Opfer. Auf dem Weg stößt ein Polizist dazu. «Wenn sie uns noch mal überfallen», meint er ungefragt, «wechseln wir die Seiten.» Der 40-Jährige ist aufgebracht und stottert vor Aufregung. «Was wir auch tun, die Russen machen mit ihren Mordkommandos alles zunichte.» Einer, der Glück hatte und mit dem Leben davonkam, ist Suleiman. Bei minus zehn Grad verbrachte er die Nacht in einer abschüssigen Kasematte, wo er nicht stehen konnte. Gegen Morgen jagten die Wachen einen scharfen Hund in das Loch. Suleiman hält sich den Bauch vor Schmerzen. Zwei Mitgefangene sind schon wieder im Spital in Inguschetien. Sie waren gegen ihren Willen zur Rückkehr aus dem Flüchtlingslager in das «befriedete» Tschetschenien gezwungen worden.
Nach der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost auferlegen sich die Militärs keine Beschränkungen mehr. Nun wird eiskalt umgelegt. Davor schreckte man sonst noch zurück. In Alchan-Kala drangen drei Soldaten Ende November in das Haus Malika Umaschewas ein und exekutierten die Bürgermeisterin durch Schüsse in den Rücken und einen Fangschuss in den Kopf. Malika war eine Stimme der Mäßigung. Ihr Grab liegt auf dem Friedhof Alchan-Kalas neben dem des berüchtigten Entführers und Guerillakommandanten Arabi Barajew, eines Onkels des Geiselnehmers von Moskau, Mowsar Barajew. Eigentlich war die Gemeinde gegen eine Bestattung Arabis auf ihrem Friedhof. Inzwischen macht der russische Terror jeden Unterschied zunichte.
Es war gegen zwei Uhr nachts, als eine Explosion in der Uliza Suworowa 25 in Atschkoi-Martan die Anwohner jäh aus dem Schlaf riss. Im Haus war zu diesem Zeitpunkt niemand mehr. Der russische Geheimdienst hatte gegen Mitternacht alle Bewohner abgeholt: die Mutter der in Moskau im Oktober getöteten Geiselnehmerin Asja Gischlurkajewa, die Schwiegertochter, Asjas sechs Monate alten Sohn und das Kind ihres Bruders. Im Nachthemd und barfuß wurden sie auf ein Feld am Rande des Dorfes getrieben. Dort wären sie wohl erschossen worden, das wird in Atschkoi zumindest vermutet, hätte nicht ein Offizier mit den weinenden Kindern Mitleid gehabt. Er ließ sie ziehen, wohin, will niemand so genau wissen. Danach kehrten die Geheimdienstler zum Haus zurück, luden auf Lastwagen, was sich noch verwerten ließ, und zündeten die Lunte an.
Ob Asja Gischlurkajewa an der Geiselnahme im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost im Oktober auch teilgenommen hätte, wäre ihr klar gewesen, was für ein Schicksal der Familie drohte? Wahrscheinlich ja. Seit sich die Frau für den fundamentalistischen Islam entschieden hatte, stand Allah über den Interessen der Familie. Asja wird von allen, die sie besser kannten, als eine kluge, nachdenkliche und entschlossene Frau dargestellt. Seit der Bruder von russischen Soldaten verschleppt worden und verschollen war, übernahm die Dreißigjährige den Vorsitz der Familie. Sie packte an und baute das eigene Haus mit aus. Männer gab es in der Familie nicht mehr. Asjas zweiter Ehemann ging bald nach der Hochzeit zu den Aufständischen in die Berge. Auch er war ein Anhänger des fundamentalistischen Wahhabismus. Die studierte Philologin arbeitete unterdessen weiter in der Berufsschule in Atschkoi-Martan. Seit 1998 besuchte sie in der örtlichen Koranschule einen Arabischkurs. Elsa Mudugowa, Arabisch- und Koranlehrerin, hat für die ehemalige Schülerin nur Lob übrig. Sie sei nicht nur eine hochintelligente Schülerin, sondern auch als Mensch ein Vorbild gewesen.
Bevor sie im Oktober nach Moskau aufbrach, nahm sich Asja viel Zeit, um sich von Freunden und Bekannten zu verabschieden. In der Schule entschuldigte sie sich, sie müsse zu einer ärztlichen Behandlung nach Rostow am Don. Einige wollen etwas geahnt haben. «Zurückhalten hätten wir sie ohnehin nicht können», meint einer. «Asja setzte um, was sie sich vorgenommen hatte.» Kaum ein Tschetschene wird die Handlung der Geiselnehmerin verurteilen. Für ein Volk, das vom Genozid bedroht wird, erschließt sich die differenzierte Logik der Anti- Terror-Koalition nicht auf den ersten Blick. «Mit zweierlei Maß messen» nennt man es hier. Hätten die Geiselnehmer etwas Verbotenes getan, wenn sie das Ende des Krieges in Tschetschenien forderten? Das verheerende Ende ihrer Aktion wird der russischen Seite angelastet.
Asja Gischlurkajewa gilt wie die anderen 32 Geiselnehmer als Märtyrerin. Die ältere Generation wird dies nie aussprechen. Die Jüngeren verehren die Terroristen indes als Helden und warten nur auf eine Chance, sich wie sie zu opfern. Die Generation der 10- bis 15-Jährigen lebt schon jetzt streng nach den Gesetzen des Korans und hält Vater und Mutter zu einem Leben nach der göttlichen Lehre an. Die Jungen verdammen Laster wie Rauchen und Alkohol und verstehen nicht, warum sich ihre Eltern den ungläubigen Russen unterwerfen.
Dank an Klaus-Helge Donath

[1] Satschistka, wörtlich Säuberung, werden die brutalen Operationen der russischen Truppen während der beiden Kriege genannt: Unter dem Vorwand, nach versteckten Kämpfer zu suchen, umzingeln sie ganze Dörfer, dringen gewaltsam in die Häuser ein, plündern und verhören die Bewohner. «Beweis» kann jeder beliebige Gegenstand werden. Es folgen Folterungen, Hinrichtungen und Verschleppungen.
[2] Das Bild der tschetschnischen Heckenschützin ist in russischen Militärkreisen verbreitet und bildet integralen Bestandteil der Propaganda in den beiden Tschetschenien-Kriegen. Der traurigste bekannt gewordene Fall ist jener von Oberst Budanow, der im Juli 2003 nach dreijährigem Verfahren wegen Entführung, mutmaßlicher Vergewaltigung und Ermordung einer jungen tschetschenischen Frau verurteilt wurde. Er hat die Vergewaltigung stets abgestritten und behauptet, er habe die Frau für eine Heckenschützin gehalten.
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