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Die sozialen Medien haben ein Putin-Problem: Im Ukrainekonflikt dürfte die russische Propaganda ein neues Niveau erreichen, dem Westen fehlt noch immer ein passendes Gegenmittel.

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine kocht wieder hoch, und das spürt man in sozialen Medien. Kein Zufall. Wenn man in deutschen Onlineredaktionen nachfragt, wann sie zum ersten Mal massiv mit prorussischen Wutbürger-Kommentaren konfrontiert wurden, lautet die Antwort meist: „Zuerst ist es uns zu Beginn der Ukrainekrise aufgefallen.“

Vor allem aber soziale Medien haben ein Putin-Problem. Man muss dem Historiker Timothy Snyder, der in seinem neuen Buch Putin die Schuld an mehr oder weniger allen politischen Verwerfungen der Gegenwart zuweist, nicht in jedem Detail folgen. Aber seine Recherchen weisen in eine Richtung, die sich lohnt, im Netz nachzuverfolgen. Liberale Demokratien sind weltweit in Gefahr oder bereits mitten im Zerstörungsprozess, vor allem durch eine „autoritäre Revolte“. Deshalb ist essenziell, dass Putin in vielen Ländern der wichtigste Verbündete von Rechten und Rechtsextremen ist:

Ein russischer Banker und Putin-Freund finanziert die rechtsextreme Front National (inzwischen Rassemblement National) in Frankreich, es sind Kredite in zweistelliger Millionenhöhe nachweisbar. Parteichefin Le Pen erklärte 2014, Putin sei „der letzte Verteidiger christlicher Werte in Europa“ und habe sich „nicht von der homosexuellen Lobby unterjochen lassen“.
Der rechtsextreme Innenminister Italiens, Salvini, ist regelrechter Putin-Fan, er hat selbst begeistert Fotos mit seinem Idol in sozialen Medien veröffentlicht. Seine Partei wurde im letzten Wahlkampf von russischen Kräften nach Kräften im Netz unterstützt.
Die rechtsextreme Regierungspartei FPÖ in Österreich fällt immer wieder durch ihre Russlandnähe auf. Zuletzt hatte die von der Partei eingesetzte (parteilose) Außenministerin Putin zu ihrer Hochzeit eingeladen, samt gemeinsamem Tanz und absurdem Hofknicks vor dem russischen Präsidenten.
Es gibt den konkreten Verdacht, dass der wichtigste Finanzier der Pro-Brexit-Kampagne russisches Geld verwendet hat, um die Partei UKIP des rechtspopulistischen Nigel Farage zu unterstützen.
Trump ist nicht nur Putin-Bewunderer, er hat bei seiner Wahl auch von der Unterstützung russischer Kräfte profitiert. Die frühere US-Außenministerin Albright sagt: „Trump ist fast ein Geschenk an Putin.“
Und auch die AfD suhlt sich in Russlandliebe, selten kommunizieren die Parteichefs Gauland und Meuthen so ehrfürchtig wie über und mit Putin, hier im Mai 2018: „An Seine Exzellenz Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation. Wir gratulieren Ihnen, Herr Präsident, zu Ihrer vierten Wiederwahl.“ Glitschig. Wegen zweifelhafter Verbindungen und Zuwendungen wie Privatjetflügen nannten die Grünen die AfD schon den „verlängerten Arm Putins im deutschen Parlament“.
Wie russische Propaganda im Netz funktioniert, ist nichts weniger als genialisch. Meiner Einschätzung nach hat Putin, selbst ehemaliger Geheimdienstler, dabei vor allem das Zusammenspiel zwischen redaktionellen und sozialen Medien perfektioniert. Russische Staatspropaganda im Netz ist gewissermaßen zugleich „state of the art“ und „art of the state“. Es ist dem Kreml damit gelungen, die Stärke liberaler Demokratien in eine Schwäche zu verwandeln: die offene Debatte nämlich.

Die politische Debatte in der Öffentlichkeit ist in liberalen Demokratien das wichtigste Mitbestimmungsinstrument außerhalb von Wahlen. Sie umfasst im weiteren Sinn sowohl klassische Medien als Korrektiv und Kontrollinstanz wie auch ein ständiges Stimmungsbild der Bevölkerung. Putins Manipulatoren haben es mithilfe des Internets geschafft, die Debatten liberaler Demokratien zu hacken. Das Erstarken autoritärer, rechter und rechtsextremer Kräfte wurde dabei teils ausgenutzt und teils forciert.

Bezahlte Trolle und unbewusst arbeitende Unterstützer

Die Strategie dahinter ist ein klassischer Geheimdienstansatz: Die Schwächung der Gegner macht uns automatisch stärker – was übrigens auch westliche Geheimdienste aufs antidemokratischste verfolgt haben. Putins Trollfabriken – die durch Presserecherchen, Leaks und Whistleblower nachvollziehbar geworden sind – sind die Verkörperung der Informationskriegsführung im 21. Jahrhundert. Sie produzieren ständig Blogbeiträge, sind in sozialen Medien höchst aktiv und verlinken immer wieder staatliche Propagandamedien wie RT, ehemals Russia Today. So wird keine „Gegenöffentlichkeit“ gesponnen, sondern eine Gegenrealität.

Nach BBC-Recherchen engagierten sich Putin-Trolle sogar als „Impfkritiker“, weil damit Zweifel an Behörden und dem ganzen „verschwörerischen“ System transportiert werden. Wer sich auf die so gewobene Gegenrealität einlässt, findet ähnlich wie bei Verschwörungsgläubigen kaum mehr zurück in eine tatsächlich ausgewogene Betrachtung der Welt, sondern beginnt im Gegenteil, die Verbreitung der „selbst entdeckten Wahrheit“ zur eigenen Mission zu machen. Deshalb gibt es natürlich nicht nur bezahlte Trolle, sondern auch kostenlos und unbewusst arbeitende, glühende Verfechter der so verbreiteten Weltsicht: Der Geniestreich virale Propaganda.

Nichts ist wahr, alles ist gelogen oder zumindest alles bloß eine Meinung

Medien wie RT oder Sputnik News appellieren dabei strategisch gegen vorgebliche Einseitigkeit. RT erklärt: „Unser Leitbild lautet: „Wir zeigen den fehlenden Teil zum Gesamtbild. Also genau jenen Part, der sonst verschwiegen oder weggeschnitten wird.“ Daraus folgt, dass es eine Art westliche Medienverschwörung gäbe, die absichtlich stets einen Teil weglässt. Diese Weltsicht erlaubt nur mithilfe der Vermutung, ganz ohne Beweis an wirklich allem zu Zweifeln. Mit diesem Ansatz hören sich auf einmal auch Zweifel an der Existenz des Mondes möglich an: Warum haben alle westlichen Medien eine so verdächtig ähnliche Meinung zum Mond? Was wird uns verschwiegen? Wo bleibt die andere Seite?

Eigentlich ist nichts wahr, alles gelogen oder zumindest alles bloß eine Meinung – das ist die Essenz russischer Propaganda. Sie erfüllt drei Funktionen: Realität und Meinung verschwimmen zu lassen, Verwirrung zu stiften und zugleich die eigenen Lügen akzeptabel erscheinen zu lassen. Weil ja alle immer lügen. Niemand ist leichter manipulierbar als der, der glaubt, dass eh alle lügen. Und zwar genau von demjenigen, der ihm diese schlimme Botschaft überbringt und deshalb als einzig verlässliche Instanz betrachtet wird.

Putins Social-Media-Krieg

Das geneigte Publikum fällt damit auf den wirkungsvollsten Trick der Propagandageschichte herein: Wer fordert: „Zweifeln Sie an allem!“, der ignoriert nicht nur en passant die messbare Realität – er verhindert vor allem Zweifel am Absender dieser Botschaft selbst. Weil liberale Demokratien aber eine gewisse politische Einigkeit brauchen, um Kompromisse über das weitere Vorgehen zu erzielen, können weitverbreitete Verwirrung, falsche Zweifel und antidemokratisches Ressentiment gewählte Regierungen lähmen. Was wiederum die Skepsis an der repräsentativen Demokratie schürt: ein Teufelskreis der Propaganda.

Die liberalen Demokratien samt der klassischen Medienlandschaft haben bisher kein gesellschaftlich wirksames Antidot gegen Putins digitale Manipulationsmaschinerie gefunden. Mit dem kommenden Ukrainekonflikt werden wir ein weiteres Meisterstück des Putin’schen Social-Media-Krieges serviert bekommen. Wahrscheinlich sogar hier in den Kommentaren. Danke, Putin.

Eine Kolumne von Sascha Lobo

 

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