Ein junger Tschetschene wurde in einer Kellermoschee zum Islamisten. Er zog nach Syrien in den Krieg und starb.

Eine Woche lang warteten die Eltern von Ruslan bange auf ein Lebenszeichen ihres Jungen. Als sich der 22-jährige Sohn tschetschenischer Flüchtlinge endlich bei seiner Familie in Wien meldete, war auf einen Schlag nichts mehr so wie früher. Er sei in Syrien, sagte er dem verzweifelten Vater, und kämpfe an der Seite von Islamisten gegen Baschar al-Assad. Zurück nach Österreich wolle er nicht, dort drohe ihm eine Gefängnisstrafe für die Beteiligung am Bürgerkrieg.

 Vier Monate später ist Ruslan tot, gefallen in Kämpfen um die Stadt Aleppo. Ein Foto der Leiche erreichte die Familie per E-Mail. Das Bild ist alles, was sie von ihrem Sohn noch haben.

Amtliche Bestätigungen fehlen indes: Weder die Staatsanwaltschaft noch das Justizministerium können mitteilen, ob und wie viele Strafverfahren wegen „verbotener Unterstützung von Parteien in bewaffneten Konflikten“ oder der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ in jüngster Zeit eingeleitet worden sind.

 Bekannt ist nur, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) mehrfach „Syrien-Heimkehrer“ vernommen hat. Im September 2013 sprach BVT-Chef Peter Gridling bei einer Pressekonferenz von neun Einvernahmen. Gerichtlich gegen Syrienkämpfer vorzugehen sei aber kaum möglich, meinte er. „Es ist einfach unmöglich, die konkrete Straftat in einem Land mit bürgerkriegsartigen Zuständen zu beweisen.“

Ein Mitarbeiter des Wiener Landesamts für Verfassungsschutz (LV) tritt derweil regelmäßig vor Vertretern der tschetschenischen Community auf und mahnt zur Wachsamkeit.

 In den öffentlichen Akten der Justiz findet sich bislang nur ein Syrienkämpfer aus Österreich: Der aus Tschetschenien stammende Hasan B. Er soll Anfang Mai 2013 bei Gefechten um den Flughafen von Aleppo gefallen sein – seine Witwe versucht derzeit, ihn beim Bezirksgericht Wien-Hietzing für tot erklären zu lassen.

Wann sich Ruslan dem radikalen Islam zuwandte und warum er in den Krieg ziehen wollte, darüber zerbrechen sich seine Eltern noch immer den Kopf. Vor zehn Jahren floh die Familie aus Tschetschenien. Die Kindheit Ruslans und seiner zwei Schwestern war von zwei brutalen Kriegen geprägt. In Österreich bekam die Familie schließlich politisches Asyl. Der Junge besuchte in Wien zum ersten Mal in seinem Leben eine normale Schule, lernte rasch und dolmetschte schon bald für seine Eltern.

In einer Kampfsportart wurde er mehrfach österreichischer Staatsmeister. Er war so erfolgreich, dass sich ein Sponsor um ihn bemühte und gar eine Einbürgerung im Eilverfahren, im Interesse der Republik, im Raum stand. Er sei hier zu einem sehr ordentlichen, gut erzogenen jungen Mann herangewachsen, sagt der Vater, der möchte, dass seine Familie anonym bleibt und auch der Name seines verstorbenen Sohnes geändert wird.

 Im Jahr 2010 brach Ruslan seine Sportlerkarriere überraschend ab. Bis heute grübelt der Vater, was diese fatale Entscheidung ausgelöst haben mag, die das ganze Leben veränderte. Vielleicht war er schon damals von radikalen Islamisten indoktriniert worden, so wie Tamerlan Zarnajew, einer der mutmaßlichen Attentäter beim Boston-Marathon, der 2009 seine Boxkarriere an den Nagel gehängt hatte, da eine strenge Auslegung des Korans es verbiete, Menschen ins Gesicht zu schlagen.

Nach dem Ende seiner sportlichen Laufbahn hangelte sich Ruslan von einem Gelegenheitsjob zum nächsten und interessierte sich zusehends für Religion. Freunde vermuten, dass er regelmäßig jene berüchtigte Kellermoschee in der Leopoldstadt besucht habe, in der Salafisten radikale Botschaften und Kriegspropaganda verbreiteten. Im Internet fand Ruslan Gefallen an Fotos von Schahiden – gefallenen Gotteskriegern. Die Eltern waren entsetzt. „Willst du sterben? Du hast doch vom Leben noch nichts gesehen! Wir sind aus der Heimat geflohen, damit du leben kannst“, ermahnte ihn der Vater, der selbst gläubiger Muslim ist und regelmäßig das Freitagsgebet in Wiens großer Moschee an der Neuen Donau besucht.

Üblicherweise begleitete ihn Ruslan. Doch am 1. Februar 2013 kann der Vater seinen Sohn nicht erspähen. Auch am Handy ist er nicht erreichbar. Seiner Mutter hatte er zuvor erzählt, er wolle über das Wochenende zu einem Freund fahren. Samstagabend werden die Eltern stutzig – der Sohn hat seinen österreichischen Flüchtlingspass mitgenommen. Noch in der Nacht auf Sonntag erstatten sie Abgängigkeitsanzeige: „Ich habe die Polizei gebeten, dass sie ihn an den Grenzen aufhalten lassen. Sie zuckten jedoch mit der Schulter und sagten, dass mein Sohn erwachsen sei.“

 Ob Ruslan das Land da bereits verlassen hatte, weiß keiner. Zum letzten Mal wird er von einem Freund der Familie am Samstagvormittag in der U-Bahn-Station Floridsdorf gesehen. Danach verliert sich seine Spur. Auf Empfehlung des Wiener LV fragt der Vater im türkischen Konsulat in Wien nach: Dort erfährt er, dass Ruslan am 24. Januar 2013 ein Visum bekommen habe – als Konventionsflüchtling mit Fremdenpass brauchte er für die Einreise in die Türkei ein Visum.

So gut wie alle Syrienkämpfer aus Europa reisen über den Landweg: Aus Wien sind es knapp 3000 Kilometer in das Kriegsgebiet, die traditionelle Route führt über Ungarn, Serbien, Bulgarien und die Türkei bis zur türkischen Grenzstadt Reyhanlı, von wo aus man für lediglich 50 Euro illegal nach Syrien kommt.

 Im türkischen Konsulat in Wien wollte man zur Vergabepraxis der Visa keine Stellung nehmen. Doch seit Ende des vergangenen Jahres dürfte sich einiges geändert haben. Unter Tschetschenen wird immer öfter von Fällen erzählt, in denen potenziellen Dschihadisten das Visum verwehrt worden sein soll.

Die Internetpropaganda fällt bei einigen auf fruchtbaren Boden. Videobotschaften, in denen der im Gotteskrieg gefallene Kämpfer zum nachahmenswerten Rollenbild avanciert, kursieren im Netz. Propagandisten des syrischen Widerstands sprechen gezielt die jungen Tschetschenen an, die im Krieg aufwuchsen, und fordern sie auf, sich nun für Kinder in Syrien einzusetzen.

Dschihad-Propaganda ist in manchen Wiener Gebetsräumen allgegenwärtig

Welche Funktion Ruslan im Bürgerkrieg erfüllte, bleibt im Dunkeln. Mehrmals telefoniert er mit den Eltern. Sie erzählen, er habe „wie ein Roboter“ gesprochen und nur noch Stehsätze über den Dschihad von sich gegeben. Mithilfe des österreichischen Verfassungsschutzes, der eine Telefonnummer zuordnen kann, erfahren die Angehörigen, dass sich Ruslan im nordsyrischen Aleppo aufhält.

Gerade dort sollen Tschetschenen eine besondere Rolle spielen. Die seit 2012 um die Großstadt gegen Assad kämpfende radikale Miliz Dschaisch al-Muhadschirin wal-Ansar etwa stand stets unter dem Kommando von Tschetschenen. Erst Anfang Februar 2014 soll der aus dem georgischen Pankisi-Tal stammende Tschetschene Ruslan Matschalikaschwili, der als Dschihad-Propagandist galt, beim Sturm auf ein Gefängnis in Aleppo gefallen sein.

Aus Syrien loggte sich Ruslan mehrmals in einem russischen Sozialen Netzwerk ein – das letzte Mal Anfang Mai 2013. Drei Wochen später fällt der ehemalige Spitzensportler aus Wien. Details darüber, wo und wie er ums Leben kam, kennen die Eltern nicht. Wer ihnen das Foto des Leichnams per E-Mail schickte, wollen sie nicht sagen. Bis heute macht sich der Vater Vorwürfe, dass er nicht selbst in das Kriegsgebiet aufgebrochen war, um seinen Sohn zurückzuholen.

A., ein Freund von Ruslans Familie, konnte seinen Sohn retten und schaffte es, ihn aus Syrien nach Österreich zurückzuholen. Nun macht er alles, um zu verhindern, dass sein Sohn erneut auf Dschihad-Gedanken kommt. A. gibt extremistischen „Sekten“ eine maßgebliche Schuld dafür, dass die tschetschenische Jugend in Österreich verdorben werde: „Es gibt zwei oder drei Keller in Wien. Die Polizei kennt all diese Orte ausgezeichnet. Sie macht aber nichts.“

 Dschihad-Propaganda und islamistische Agitatoren sind in manchen Wiener Gebetsräumen allgegenwärtig. Tschetschenische Exilpolitiker wie Huseyn Iskhanov, der früher im Parlament in Grosny saß und heute in Wien lebt, schlagen daher die Einrichtung von explizit weltlichen Kulturzentren und Treffpunkten vor, um den Nachwuchs von der Propaganda fernzuhalten. Sie sollen die Integration der Jugend in die österreichische Gesellschaft unterstützen. Das wäre deutlich effizienter, meint Iskhanov, als sich später mit Polizei und Verfassungsschutz um radikalisierte und manipulierte Jugendliche kümmern zu müssen.
http://www.zeit.de/2014/09/islamisten-wien-syrien