Demonstranten fordern am 13. Juli vor dem russischen Generalkonsulat in Odessa die Freilassung Senzows Bild: dpa

Der ukrainische Filmregisseurs Oleg Senzow sitzt zu unrecht in Haft. Sein Hungerstreik dauert bald länger an, als sein Überleben wahrscheinlich ist.

An diesem Sonntag wird der ukrainische Regisseur Oleg Senzow vielleicht den 77. Tag seines Hungerstreiks antreten. Vielleicht, weil man an jedem Morgen seines Hungerstreiks nicht weiß, ob er am Abend noch leben wird. Der IRA-Kämpfer Bobby Sands starb nach 66 Tagen Hungerstreik in einem nordirischen Gefängnis. Der sowjetische Dissident Anatolij Martschenko hielt seinen Hungerstreik in einem Hochsicherheitslager 117 Tage lang und starb etwa eine Woche, nachdem er ihn beendet hatte. Er wurde aber zwangsernährt, eine erniedrigende und qualvolle Prozedur.

Es gibt keine genauen medizinischen Erkenntnisse über den „durchschnittlichen“ Verlauf eines Hungerstreiks, alles hängt vom Gesundheitszustand des Streikenden und seiner körperlichen Beschaffenheit ab. Nach circa 30 Tagen sollen Gesundheitsschäden bereits irreversibel sein, nach 60 Tagen sei mit einer schweren Behinderung zu rechnen. Kein Insasse eines russischen Straflagers dürfte gesund sein; Senzow habe seinen Anwälten zufolge schon vor dem Hungerstreik an Unterernährung und Mangelerscheinungen gelitten. Die sogenannte „Menschenrechtsbeauftragte“ beim Präsidenten der Russischen Föderation, Polizeigeneral A.D. Tatjana Moskalkowa, meinte aber, das Hungern tue Senzow gut, er habe sogar ein paar Kilo zugelegt. Seit dieser Sensationsmeldung sind schon zwei Wochen vergangen.

Eine Haftstrafe, so hoch wie für NS-Verbrecher

Man hat sich an Senzows Hungerstreik gewöhnt, manchmal hat man sogar das Gefühl, dass es schon immer so war und immer so sein wird. Das wird es aber nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Oleg Senzow sterben oder schwer behindert entlassen werden wird – falls er seine Entlassung überhaupt als einen ausreichenden Grund akzeptieren würde, seinen Streik zu beenden. Denn Senzow verlangt keine Freiheit für sich selbst, sondern die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen, die in russischen Straflagern und Gefängnissen festgehalten werden. Ukrainische Behörden haben 69 solche Menschen gezählt. Die allermeisten von ihnen sind Krimtataren, die die Annexion ihrer (und Senzows) Heimat durch Russland nicht guthießen. Sie sind aber keine Widerstandskämpfer, wie man wahrscheinlich annehmen könnte, denn bewaffneter Widerstand existiert auf der Krim nur in der russischen Propaganda.

Oleg Senzow während der Verkündung des Urteils auf zwanzig Jahre Haft am 25. August 2015
Oleg Senzow während der Verkündung des Urteils auf zwanzig Jahre Haft am 25. August 2015 :Bild: dpa

Oleg Senzow wurde von einem russischen Gericht für zwanzig Jahre ins Hochsicherheitslager geschickt. Damit man die Härte dieser Strafe versteht: Zu zwanzig Jahren wurden die Kriegsverbrecher Albert Speer und Baldur von Schirach in Nürnberg und Vojislav Šešelj in Den Haag verurteilt. Dasselbe nordkaukasische Militärgericht, welches Senzows Strafe verhängte, verurteilte nur zwei Jahre später zwei tschetschenische Terroristen, die 1995 an der Geiselnahme in Budjonowsk mit über hundert Todesopfern beteiligt waren, zu 13 und 15 Jahren Haft im regulären Vollzug. 2008 erhielten in Moskau zwei Anführer einer Neonazibande, die nach eigenem Geständnis 37 Menschen ermordet haben sollen, je zehn Jahre Haft. Dem Ukrainer Senzow wurde Beteiligung an zwei Brandanschlägen zur Last gelegt, beide mit sehr geringem Sachschaden, und Anstiftung zum Sprengstoffanschlag aufs Lenin-Denkmal, der nie verübt worden war. Selbst im verrückten russischen Rechtssystem voller Willkür und Ungerechtigkeit sticht Senzows Urteil wegen seiner maßlosen Härte hervor. Dabei hat er nicht einmal diese Bagatelldelikte begangen, sein Urteil beruht ausschließlich auf Aussagen von zwei Zeugen, von denen einer bei der Verhandlung seine Aussagen widerrief: Man habe ihn unter Folter gezwungen, Senzow zu belasten.

VON NIKOLAI KLIMENIOUK

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